Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
kletterte über die Mauer zum Innenhof und drückte von dort die Tür zum Haus auf – fast niemand hier am Ort der Wahrheit verschließt jemals die hintere Pforte. Ich lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge zweier Schlafender, doch ich konnte nichts hören. So dauerte es nur wenige Augenblicke, bis ich erleichtert feststellte, dass weder Kenherchepeschef noch Hunero im Haus waren. Ich eilte zu dem Tonkrug, in dem das Traumbuch des Chnumhotep verwahrt wurde, zog es heraus und machte mich davon. Es war alles sehr einfach gewesen. Zu einfach. Es war nichts als eine Laune der Götter, die sich über mich lustig machten.
Ich wollte das Traumbuch am nächsten Tag zur Mittagszeit entrollen, wenn Amuns Wagen am höchsten und sein Licht am stärksten ist – so stark, dass ich die Hieroglyphen noch hätte entziffern können. Doch da hatte man schon den toten Kenherchepeschef gefunden. Das ganze Dorf war in Aufregung, alle erwarteten, dass ich, der einzige Priester am Ort der Wahrheit, in den Tempel ginge, um Reinigungszeremonien abzuhalten. Dann kam der Tschati und brachte dich mit. Und du bliebst hier.«
Kaaper versuchte zu lächeln, doch es wurde nur eine Grimasse der Qual. »Ich half dir, so gut ich es vermochte. Denn ich wollte, dass du den Mörder findest, verhaftest – und wieder verschwindest. Doch der Frevler hielt sich geschickt verborgen und zwang dich, hier zu bleiben. Und solange du hier warst und jederzeit zu mir kommen konntest, wagte ich es nicht, das Traumbuch des Chnumhotep aus seinem Versteck in meinem Haus zu holen.
Ich wartete bis zum Opet-Fest, wo ich endlich die Gelegenheit haben würde, das weise Werk ungestört im Tempel von Karnak lesen zu können. Doch dann war es zu spät. Als ich schließlich in Amuns größtem Heiligtum saß und den Papyrus zur Mittagsstunde entrollte, hörte ich ein höhnisches Lachen über mir im Himmel. Denn nun waren meine Augen so schwach geworden, dass ich die heiligen Zeichen nicht mehr entziffern konnte. Ich war blind. Das Traumbuch des Chnumhotep war wertlos geworden für mich, meine einzige Hoffnung war dahin. Es blieb mir nichts, als Amun ein letztes Opfer darzubringen.«
Kaaper setzte sich müde auf die sauber verfugten Steinplatten, die den Boden des Innenhofes bedeckten. »Ich werde das Gelübde erfüllen, das ich eigentlich nur als Vorwand erfunden hatte: Ich werde hier bleiben als einziger Priester an diesem kleinen Tempel. Als Vorlesepriester in Karnak bin ich als blinder Mann sowieso von Userhet abgelöst worden. Einer der Vorarbeiter hat mir versprochen, für mich ein kleines Haus der Ewigkeit in die Felsen oberhalb des Dorfes zu schlagen. Dort werde ich irgendwann für alle Ewigkeit ruhen. Und ich hoffe, dass ich wenigstens im Reiche des Osiris wieder sehen kann.«
Rechmire dachte an eine alte Frau, die im Haus neben dem seiner Adoptiveltern lebte. Ihr hatte schon in jungen Jahren ein großes Geschwür den Kiefer entstellt und so verzogen, dass sie ihr Leben lang nur Suppen essen konnte. Für ihr Grab aber hatte sie alle ihre Ersparnisse zusammengekratzt und einen Künstler beauftragt, der gebratene Gänse, Hunderte von Brotlaiben, Datteln und tausend andere Köstlichkeiten an die Wände malte – all das, was sie in dieser Welt hatte entbehren müssen.
»Du würdest hier in Frieden ruhen, wenn dein Haus der Ewigkeit mit Fresken von Amuns goldenem Wagen, von Weinlauben und dem Binsen- und Papyrusdickicht am Ufer des Nils verziert wäre, sodass du in aller Ewigkeit das betrachten kannst, was für dich nun in Dunkelheit versunken ist«, murmelte er und fühlte keinen Zorn mehr gegenüber dem Priester. Er glaubte Kaapers Geschichte. Und selbst der unwiederbringliche Verlust des letzten Exemplars von Chnumhoteps Traumbuch erschien ihm nun erträglich, ja geradezu im Einklang mit der Maat, im Angesicht der bedrohlichen Aufgabe, die vor ihm lag.
Kaaper lächelte matt. »Der Vorarbeiter ist ein gutherziger Mann, aber kein Künstler. Er wird mir eine Kammer aus dem Felsen schlagen, mehr nicht.«
»Der beste Zeichner vom Ort der Wahrheit wird dein Haus der Ewigkeit mit Meisterwerken schmücken«, versprach ihm Rechmire.
Der Priester wandte ihm seine leeren Augen zu. »Warum sollte Parahotep so etwas tun?«, fragte er.
»Weil ich ihn dazu zwingen werde«, entgegnete Rechmire und bemühte sich dabei, grimmige Zuversicht in seine Stimme zu legen. Doch es gelang ihm nur für wenige Augenblicke, dem Priester Mut und Tatkraft vorzuspielen. Dann ließ er den
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