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Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman

Titel: Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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lange Wollschnüre, die sie zuvor durch große Tonschalen mit zerriebenem Ocker gezogen hatten, einen Finger breit vor der Wand auf und ließen sie wie Bogensehnen gegen die Wand sausen, sodass langsam ein Muster aus senkrechten und waagerechten Linien entstand.
    Auf dem obersten Querbalken des Gerüstes balancierte ein Zeichner, der mit roter Tinte Bilder an die Wand warf. Das Gitternetz half ihm dabei, die richtigen Proportionen bei Göttern, Menschen und Hieroglyphen einzuhalten. Doch das allein erklärte nicht, dass er so rasch arbeitete. Er war außergewöhnlich geschickt und er zeichnete so schnell, als wäre er von einem Dämon besessen. Er hatte eine kleine Schale mit flüssiger Ockertinte in der Linken und tunkte die feine Malbinse so heftig hinein, als würde er einen aus großer Höhe niederstoßenden Falken imitieren. Mit routinierten, schnellen Strichen machte er dann die Vorzeichen für die heiligen Szenen. Er hatte drei Öllampen auf seinem Gerüst abgestellt, doch wegen des Kommens und Gehens der Steineschlepper herrschte ständig ein leichter Zug in der staubgeschwängerten Luft, der ihre Flammen tanzen ließ. Der Zeichner drückte sein Gesicht bis dicht vor sein Werk, um im trüben, unruhigen Licht alle Einzelheiten erkennen zu können. Manchmal hob er sogar eine der Lampen bis vor seine Augen, um die Länge und Form eines Striches zu begutachten.
    Rechmire sah ihm eine Weile zu. Langsam erkannte er ein Bild in dem Gewirr aus dem roten Gitternetz und den schnell hingeworfenen Linien. Er sah die Wiedergeburt der Sonne am Morgen: Amun-Re wurde in dreifacher Gestalt von zwei Armpaaren nach oben getragen, als Scheibe, als Skarabäus mit einem Widderkopf und als neugeborenes Kind. Die bedrohliche Finsternis und die Wasserfluten teilten sich vor ihm und wichen zu beiden Seiten zurück. Dort und unterhalb der Sonne standen viele Männer, die bereits im Reich des Westens waren. Die Toten beteten Amun-Re an, zusammen mit ihrer vogelgestaltigen Ba-Seele und ihren Schatten, die durch Palmwedel symbolisiert wurden, die sich verneigten.
    Es war das letzte Bild des Höhlenbuches, das Amun-Res nächtlichen Flug als Weg durch zwölf Höhlen beschrieb, in denen der Gott die Gerechten belohnte und die Sünder von der Großen Verschlingerin zerfetzen ließ, sodass sie nicht des ewigen Lebens teilhaftig wurden.
    Der Zeichner machte sich nun daran, die Flächen neben den betenden Toten mit mehreren Kolumnen von Hieroglyphen zu füllen. Rechmire bemerkte, dass er sich bei allen Zeichen niemals verschrieb, ja nicht einmal zögerte.
    »Er hat die Zeichenfolge sehr gut auswendig gelernt«, bemerkte er.
    »Er kann den Text lesen«, entgegnete Sennodjem kühl.
    Rechmire sah ihn überrascht an. »Ein Zeichner, ein Arbeiter, der lesen und schreiben kann?«, rief er erstaunt.
    Der Zweite Schreiber zuckte die Achseln und sah ihn etwas mitleidig an. »Fast alle Arbeiter hier beherrschen die Kunst der Hieroglyphen«, antwortete er.
    Rechmire schnappte nach Luft. Im Lande Kemet konnten von hundert Männern höchstens drei lesen und schreiben. Nur diese ungewöhnliche Kunst machte aus einem Schreiber jemanden Besonderen und dies war die Quelle seines Stolzes und seiner Hoffnung auf eine glänzende Laufbahn. Rechmire hatte sich den Arbeitern in Theben, den Dienern, Händlern und Soldaten gegenüber stets unendlich überlegen gefühlt, weil er die heiligen Texte lesen konnte, die ihnen für immer verschlossen bleiben würden. Doch hier? Wenn in Set-Maat jeder Mann die Hieroglyphenschrift beherrschte, dann war ein Schreiber nicht nur niemand Besseres, er war sogar weniger wert. Denn wozu brauchte ein Maler, ein Zeichner, ein Reliefbildhauer, ja sogar ein simpler Steinebrecher noch einen Schreiber, wenn ihm selbst alle Texte offen standen? Zum ersten Mal kam Rechmire der Verdacht, dass die Männer am Ort der Wahrheit, die er bis jetzt verachtet hatte, seinerseits ihn verachteten, weil er die Kunst beherrschte, die jeder hier beherrschte – aber keine andere dazu. Sie ihrerseits mussten Männer wie ihn für überflüssig halten.
    Er hatte sich von diesem Schock noch nicht erholt, als sich ein älterer Mann wortlos an ihm vorbeidrückte und auf das Gerüst zu dem Zeichner stieg. Er begutachtete dessen Werk eingehend und brachte dann mit schwarzer Tinte in sorgfältigen, langsamen Strichen drei schwarze Korrekturen an, die er über die roten Linien malte. Korrekturen, die, wie Rechmire fand, die Proportionen der Skizze eher

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