Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
ein Schneckenhaus immer tiefer in den Felsen windet. Er wollte eine klare Abfolge von Gängen und Hallen, die, so befahl er uns persönlich, ›so gerade wie ein Sonnenstrahl in den Berg führen soll‹.« Die Stimme des Zweiten Schreibers vibrierte vor Stolz.
»Der Pharao hat persönlich zu euch geredet?«, fragte Rechmire verwundert und neidisch.
Sennodjem lächelte ihn hochmütig an. »Und das mehr als einmal«, entgegnete er spitz. »Der Pharao nimmt großen Anteil an unserer Arbeit. Immerhin war er schon über sechzig Jahre alt, als er den Thron bestieg. Da muss er uns zur Eile antreiben.«
Sie blieben bewegungslos in der Mitte des Ganges stehen, als die staubverkrusteten Steinschlepper wieder einmal mit ihrer Last zum Ausgang hinaufstiegen. Sennodjem hielt eine Hand über seine Öllampe, damit ihre Flamme im Luftzug der Männer nicht zu stark tanzte oder gar erlosch. Die Arbeiter nahmen keine Notiz von ihnen und redeten auch nicht untereinander. Rechmire sah, dass die meisten von ihnen noch sehr jung waren.
Als der Gang tiefer hinabführte, passierten sie Texte aus dem Pfortenbuch, das die zwölf Pforten schildert, die die untergegangene Sonne passieren muss, die Grenzen der zwölf nächtlichen Stunden. Dann las er Auszüge aus dem Buch der Geheimen Kammer, ein uraltes Werk, das die zwölf Räume der Unterwelt beschreibt.
Der Untergrund wurde erst wieder eben, als sie die
Halle des Wagens
erreichten, den ersten Säulensaal. Ehrfürchtig blickte Rechmire sich um. Er sah Osiris, den Herrn der Unterwelt und Totenrichter, er sah Horus und andere Götter – und vor ihnen immer wieder der Pharao, der ihnen opferte und dafür von ihnen gnädig aufgenommen wurde. Doch an einer Stelle war die Harmonie der Bilder, der endlose Fluss der Hieroglyphen gestört: Ein großer Block aus grauem, undekoriertem Felsen wuchs wie ein Krebsgeschwür aus der Decke und einer Seitenwand.
»Warum habt ihr die Arbeit hier nicht vollendet?«, fragte er.
»Geh näher hin und sieh es dir selbst an«, antwortete der Zweite Schreiber verdrießlich und hielt seine Öllampe hoch. Rechmire sah Tausende von winzigen Einkerbungen in dem Felsen.
»Das ist Flintstein«, erklärte Sennodjem. »Set-Maat liegt in einem Gebirge aus Sandstein, der leicht zu bearbeiten ist. Hier laufen nur sehr wenige Flintadern durch den Fels – doch wir hatten Pech und sind genau auf eine gestoßen. Er ist zu hart für unsere Bronzemeißel. Tagelang haben unsere stärksten Steinbrecher ihre Werkzeuge an diesem Fels zuschanden geschlagen, doch schließlich mussten wir aufgeben, ohne kaum zwei Finger breit von dem harten Felsen weggeschlagen zu haben. Kenherchepeschef hat einen Boten zum Tschati gesandt, der wiederum den Pharao selbst unterrichtet hat. Uns blieb keine große Wahl: entweder den Flintstein stehen zu lassen oder unser Werk auf halbem Weg aufzugeben und irgendwo anders mit einem neuen Haus der Ewigkeit zu beginnen. Wenn der Pharao zwanzig Jahre alt gewesen wäre, hätte er uns wahrscheinlich befohlen, ein neues Grab anzulegen und dieses mit Schutt und Abraum zu verfüllen. Und er hätte Kenherchepeschef den Krokodilen vorgeworfen. Aber er ist schon alt – also beschloss er, die Ewigkeit lieber in einem vollendeten, wenn auch durch einen Makel entstellten Palast zu verbringen als in einem neuen, der möglicherweise bei seiner Reise in den Westen erst halb fertig und dann niemals vollendet worden wäre.«
Sennodjem zuckte die Achseln und Rechmire war nicht klar, ob der Zweite Schreiber erleichtert darüber war, dass sie die letzten Jahre nicht umsonst geschuftet hatten oder, im Gegenteil, der Möglichkeit nachtrauerte, dass ein jüngerer Herrscher Kenherchepeschef zum Ufer des Nils geschleppt hätte.
Merenptahs Streitwagen und mehrere große, mit elfenbeinernen Einlegearbeiten verzierte Schatztruhen aus Ebenholz standen bereits an den Wänden des Säulensaals.
»Was ist in den Truhen?«, wollte Rechmire wissen.
Sennodjem machte eine vage Geste. »Das darf keiner wissen. Niemand von uns hat sie je geöffnet. Diener des Pharaos haben sie hierhin gebracht und versiegelt, Priester haben einen Fluch gesprochen, der jeden treffen wird, der es wagt, sie zu öffnen.«
Sie steigen den Gang tiefer hinab – so tief inzwischen, dass auch die größten Spiegel kein Sonnenlicht mehr bis hierher hinunterschicken konnten. Im flackernden Licht ihrer Öllampe schienen die Reliefs zum Leben erweckt zu werden. Sie sahen die Mumie Merenptahs, vor der ein Priester in
Weitere Kostenlose Bücher