Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
ich nur noch Schemen, deren Farben und Formen ich nicht mehr zu bestimmen vermag. Nächstes Jahr wird alles schwarz sein um mich.«
Rechmire hätte Kaaper gerne gefragt, warum er, der doch nichts mehr lesen konnte, das Traumbuch des Chnumhotep versteckte, doch er hielt den Zeitpunkt dafür noch nicht für günstig.
Plötzlich berührte Kaaper seine Hand und lächelte versonnen. »Der Hohepriester Userhet und alle niederen Diener Amuns werden in wenigen Stunden im Tempel von Karnak den Amun feierlich zur Nacht geleiten. Was hältst du davon, mich zu begleiten?«
Rechmire sah ihn erstaunt an. »Ich darf daran nicht teilnehmen«, flüsterte er.
Der Priester lachte kurz. »Du musst dich natürlich in gebührendem Abstand hinter den Kulissen halten und niemandem unangenehm auffallen. Nach der heiligen Zeremonie könnte ich es dann so einrichten, dass du einige Worte an Userhet richten darfst.«
»An den Hohepriester Amuns selbst?«, rief Rechmire, dann bezwang er sich, weil ihn einige Bauern neugierig anstarrten. »Niemand kann einfach so mit Userhet reden«, fügte er leise hinzu. »Und ich wüsste auch gar nicht, worüber ich mit einem so heiligen und mächtigen Mann sprechen sollte.«
Da lachte Kaaper so heftig, dass ihm Tränen aus den trüben Augen rollten. »Userhet war vielleicht der letzte Mensch, der vor seinem Tod noch mit Kenherchepeschef gesprochen hat. Ich glaube, dass es einiges gäbe, über das du mit ihm reden könntest. Und ich glaube weiterhin, dass er nicht gänzlich abgeneigt wäre, dir zu antworten.«
Kaaper ließ sich von Rechmire zum Osttor des Tempels von Karnak führen, das auf der nilabgewandten Seite lag und keinen Prozessionen oder anderen kultischen Handlungen diente, sodass es vergleichsweise klein und unauffällig ausgefallen war – sofern irgendetwas unauffällig sein konnte am Tempel von Karnak. Sie gingen auf einer breiten Allee außen an der riesigen Umfassungsmauer entlang, die von farbigen Reliefs geschmückt war, von denen jedes einzelne größer war als die Vorderfront eines Hauses. Sie zeigten die triumphalen Feldzüge von Sethos dem Ersten in Palästina und von Ramses dem Zweiten gegen die Hethiter und Libyer. Rechmire sah den Pharao, größer als alle anderen Menschen, im Streitwagen mit Pfeil und Bogen, hinwegschreitend über gefallene Feinde, die Kriegskeule in der erhobenen Hand und mit Lotosblüten, die er den Göttern opfert; er sah erstürmte Städte und verwüstete Felder, bärtige Gefangene, denen die Arme auf den Rücken gebunden waren, Krieger unter der Last ihrer Beute und Soldaten, die die abgeschlagenen Hände getöteter Feinde zu riesigen Hügeln aufschichteten. Die Hieroglyphen – manche Zeichen waren größer als sein Oberkörper – berichteten in tragenden Worten von diesen Siegen und listeten mit der pedantischen Sorgfalt der Magazinverwalter des Pharaos die Zahl der Gefangenen und jedes einzelne Beutestück auf. Rechmire schritt auch unter der Hymne entlang, die Ramses der Zweite nach der Schlacht von Kadesch in die Wand hatte meißeln lassen und die Kenherchepeschef einst abgeschrieben hatte.
Das Osttor war klein, bestand aber aus zwei massiven, mit Amun-Reliefs verzierten Bronzeflügeln. Vor dem Tor standen zwei Schlangensteine, kegelförmige Blöcke, um die sich Schlangen wandten, welche das Heiligtum vor allen ungebetenen Besuchern schützten. Kaaper murmelte eine magische Formel, deren Worte Rechmire nicht verstehen konnte, und verneigte sich vor den Schlangen, bevor er auf das Tor zuschritt.
Die Tempelwächter erkannten Kaaper und verbeugten sich mit vorgestreckten Händen. Niemand wagte es, Rechmire in seiner Begleitung anzusprechen.
Karnak war wie eine eigene Stadt in der Stadt. Die Tempelmauer war viele hundert Schritte lang und umschloss ein Geviert, das mehr als doppelt so groß war wie das eigentliche Heiligtum. Den freien Platz nahmen die flachen, aber großzügig geschnittenen Häuser der Priester, lang gestreckte Magazine, Gärten mit duftenden Kräutern und mehrere künstlich angelegte, rechteckige Teiche ein. Rechmire entdeckte drei ältere Sklaven, die mit gekrümmten Rücken in einem Garten Myrrhe schnitten, ansonsten schien die Anlage menschenleer zu sein.
»Sie sind alle schon im Tempel«, sagte Kaaper wohlgelaunt, der seine Gedanken erraten zu haben schien. Der Priester kannte sich in Karnak so gut aus, dass Rechmire ihn nicht mehr führen musste, sondern im Gegenteil Mühe hatte, ihm zu folgen, weil er mit sicheren Schritten
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