Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
mächtigsten Mann der Beiden Reiche nach dem Pharao selbst hielten. Aber die Priester kümmerten sich kaum um die Schreiber, die, nach den Soldaten, die zweite Säule bildeten, auf die der Pharao seine Herrschaft stützte. Was also wollte Sennodjem mit seiner vagen Drohung andeuten? Dass er über die Errichtung von Userhets Grab so viel Einfluss auf den Hohepriester nehmen konnte, dass dieser wiederum einen Konflikt mit dem Tschati – und damit letztlich mit dem Pharao selbst – riskieren würde? Oder gab es etwas anderes, das Userhet so stark mit dem Ort der Wahrheit verband, dass er dafür sogar die strengen Regeln des Priesterstandes ignorieren würde?
Rechmire fand keine Antworten darauf und wurde immer unruhiger, je näher sie Theben kamen. Sennodjem mochte durch eine Intrige beim Hohepriester nicht nur seine Nachforschungen blockieren, er drohte gar, wenn auch unwissentlich, Rechmires Liebe zu Userhets Tochter unerfüllbar zu machen.
Als sie die Mitte des Stroms erreicht hatten, konnten sie den Duft Thebens einatmen. Rechmire kamen die Gerüche aus den Gewürzhallen und Garküchen, aus den Schmieden, Gerbereien und den Lustgärten der Reichen intensiver vor als je zuvor. Er wusste aber nicht, ob es nur daran lag, dass er die Stadt eine Woche lang nicht gesehen hatte, oder daran, dass zu ihren hunderttausend Bürgern mindestens weitere hunderttausend Pilger strömten.
Alle Piers im Hafen waren belegt, zwei, drei Schiffe waren jeweils nebeneinander festgebunden und scheuerten an den großen Sandsteinquadern der Kais. Aufgeregte Kapitäne und Lotsen fluchten in allen Sprachen des Erdkreises. Ihr Fischer schimpfte auf einen mykenischen Schnellsegler, der sich ihnen rücksichtslos in den Weg schob und sie dabei beinahe zum Kentern gebracht hätte. Die Medjai zückten ihre Dolche und stießen Verwünschungen in Richtung des Schiffes aus, dessen Bug von zwei riesigen, rot und blau gemalten Augen verziert wurde, und Kaaper opferte sicherheitshalber noch einmal etwas Myrrhe.
Sennodjem, der die Pilgerfahrt bis ins kleinste Detail organisiert zu haben schien (eine Tatsache, die Rechmire zugleich Bewunderung abnötigte und Angst einflößte), führte sie, nachdem sie endlich irgendwo anlegen konnten, über die schwankenden Decks zweier Lastkähne aus Piramesse bis zum Kai und von dort aus zum Viertel der Handwerker.
Sie passierten die Werkstätten und wackeligen Verkaufsbuden der Sandalenschuster und Lederriemenmacher, der Flachsweber, Spinner, Seifensieder und Glasbläser. Zwei Töpfer mit hellgrau verschlammten Händen formten eilig Krüge mit der Rechten, während ihre Linke unablässig die Töpferscheibe antrieb. Ihre Frauen schrien die Preise der fertigen Waren aus, die, grün und blau glasiert, noch heiß aus dem Brennofen kamen. Sie würden das Geschäft des Jahres machen, denn in dem Gedränge während des Opet-Festes wurden stets unzählige Tongefäße zerschlagen.
Sennodjem fluchte laut, als sie im Gewühl auf den engen, staubigen Gassen stecken blieben. Ein Bauer, der so arm war, dass sein Leibtuch nicht aus Leinen, sondern nur aus grobem Bast geflochten war, hatte einen struppigen alten Esel vorangetrieben, der mannshoch mit prall gefüllten, aber schon arg zerschlissenen Getreidesäcken beladen war. Doch der Esel weigerte sich nun störrisch, zwei riesige schwarze Ochsen zu passieren, die ihm entgegenkamen. Die Rinder zogen einen Schlitten, auf dem ein großer, grob zurechtgehauener Sandsteinblock lag. Zwei Sklaven kippten ständig aus großen Amphoren Wasser vor die Kufen des Schlittens, damit er leichter über den Grund glitt, während ein dritter die unglücklichen Zugtiere mit der Peitsche malträtierte.
»Amun allein mag wissen, warum diese Männer ausgerechnet heute einen Steinblock zum Hafen bringen müssen!«, rief Nachtmin lachend.
Die Menge wurde unruhig. Irgendjemand schrie, andere lachten. Ein junger Mann, dem das linke Ohr abgeschnitten worden war, führte einen Pavian an einer langen Leine, der darauf abgerichtet war, ausgestellte Waren, Honigkuchen und Datteln aus den Verkaufsständen zu stehlen. Doch in dem Menschenauflauf blieb er stecken und mehrere wütende Händler, die ihn verfolgt hatten, erreichten ihn und droschen mit Knüppeln auf ihn ein, während sein Affe daneben aufgeregt herumsprang und zeterte.
Dem Zweiten Schreiber dauerte es schließlich zu lang, in der verstopften Gasse zu warten. Er schickte die Medjai nach vorn, die, unter den johlenden Anfeuerungsrufen der Menge,
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