Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
donnerte er sich nun auf wie eine alternde Primaballerina. Er hatte darüber nachgedacht, was diesen erneuten Sinneswandel ausgelöst hatte. Von einer Nachfrage hatte er Abstand genommen. Und obwohl er selbst ein Modemuffel war, war er neugierig darauf, wie sich der Commissarius bei ihrer nächsten Begegnung herausgeputzt haben würde.
Daniele Vicente hatte weder wissentlich zu den Ritualmorden beigetragen, noch traf ihn eine moralische Schuld. Aus dem Haus seines alten Schulfreunds war er ausgezogen und hatte sich wieder in seiner alten Pension einquartiert, wo er sich sogleich mit seiner Zimmerwirtin »vertragen« hatte. Als er von der bevorstehenden Hochzeit erfahren hatte, hatte er Otto herzlich gratuliert und ihn gleich darauf um ein kleines Darlehen gebeten, das ihm die Überfahrt nach Kapstadt ermöglichen sollte. Er plante die Neuerschließung einer alten Goldmine. Vor Ort wollte er seine alten Kontakte bemühen und Financiers für das Projekt gewinnen. Auch wenn Otto nicht davon ausging, dass Daniele Vicente seine Schulden jemals begleichen würde, hatte er ihm die Summe für die Schiffspassage ausgezahlt. Er mochte diesen Weltenbummler einfach und konnte ihm nichts abschlagen.
Wachtmeister Holle war der Beteiligung an den Ritualmorden zu Unrecht verdächtigt worden. Seit jener Nacht, in der Walter Leiser ertrunken war, galt er als verschwunden. Er war weder im Polizeipräsidium noch in seiner Wohnung noch an einem anderen bekannten Ort wieder aufgetaucht.
Professor Emil von Trittin hatte schwere Verletzungen an beiden Armen davongetragen und war nur knapp von einer beidseitigen Amputation verschont geblieben. Zurzeit lag er im Krankenhaus. Otto und der Commissarius hielten ihn für schuldig, wenigstens der Anstifter zum Mord an Salomon Hirsch gewesen zu sein, aber es würde schwer werden, ihm eine Tatbeteiligung nachzuweisen. Der Wissenschaftler hatte ausgesagt, dass Walter Leiser, den er aus früheren Tagen kannte, ihn gebeten hätte, im »Bayreuther Eck« einen Schlüssel gegen Überreichung eines Umschlags abzuholen. Er habe Daniele Vicente hingeschickt, weil er sich selbst an einem solchen Ort nicht mehr sehen lassen würde. Der Schlüssel sei später von Walter Leiser bei ihm abgeholt worden. Zu welchem Zweck er bestimmt gewesen sei, habe er zu keinem Zeitpunkt gewusst.
Der Untersuchungsrichter hatte sich die Geschichte angehört und hinterher gesagt, dass er zwar Zweifel am Wahrheitsgehalt von Trittins Aussage hege, dass er ihm aber nicht das Gegenteil beweisen könne. Der einzige Zeuge, der Trittin hätte belasten können, sei ertrunken. Er halte es daher für unwahrscheinlich, dass es bei einem Prozess zu einer Verurteilung nach den Paragrafen 47 folgende RS t GB als Mittäter, Anstifter oder Gehilfe kommen würde, weil der Verteidiger den Rechtsgrundsatz » in dubio pro reo « geltend machen könnte. Hinzu käme noch, dass Professor von Trittin von dem Täter schwer verletzt worden sei, was nicht gerade für eine Komplizenschaft spreche und ebenfalls von der Verteidigung ausgeschlachtet werden könnte. Nach Prüfung aller Umstände halte er es für unwahrscheinlich, dass es zur Anklageerhebung komme.
Herr Grasmueck schloss unterdessen seine Messungen ab, schrieb sich einige Zahlen in sein Notizbuch und verabschiedete sich mit einer Verbeugung.
Otto wies sein Hausmädchen Lina an, den Schneider zur Tür zu bringen. Dann kleidete er sich an und überprüfte sein Aussehen im Spiegel. Vor drei Tagen hatte ihn ein Brief von Professor von Trittin erreicht, in dem er um ein Treffen gebeten hatte. Der Wissenschaftler hatte geschrieben, dass er sich bei ihm persönlich bedanken wolle – immerhin habe er ihm das Leben gerettet. Ein solches Anliegen passte eigentlich nicht zu seinem Charakter, und Otto vermutete einen anderen Hintergrund.
Er hatte sofort zugesagt.
Potsdamer Straße
Zum ersten Mal seit vielen Jahren empfing der Commissarius einen Gast in seiner Wohnung und führte ihn ins Esszimmer.
»Warum haben Sie denn für drei Personen gedeckt, mein Lieber?«, fragte der Gerichtsarzt Dr. Gessken. »Erwarten Sie noch jemanden? Und wieso steht dort das Porträt einer alten Dame auf dem Tisch?«
Für einen Moment zögerte der Commissarius. Er überlegte, ob er diesem adretten Mediziner wirklich einen tieferen Einblick in sein Leben gewähren sollte, in dem auch die Einsamkeit eine Rolle gespielt hatte, aber im Grunde hatte er diese Frage vorausgeahnt und schon beim Tischdecken für sich
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