Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
die entgegengesetzte Richtung vom beabsichtigten Kurs zu legen war. Als er dann ein Dutzend Mal mit dem Bug durch den Wind gekreuzt war und er die Wende einigermaßen beherrschte, band Otto das Reff aus dem Großsegel und erhöhte so den Windeinfall, was nicht nur zu einer spürbar höheren Geschwindigkeit führte, sondern Moses auch schnellere Reaktionen abverlangte. Kühle Wassertropfen spritzten ihnen ins Gesicht.
Trotz der Vielzahl an Informationen, die sein Leibdiener in kürzester Zeit verarbeiten musste, begriff er die Zusammenhänge schnell. So schnell, dass Otto das Vorsegel setzte und die Kommandos durchging, die bei einer gut funktionierenden Bootsmannschaft unerlässlich waren. Bald erschallten »Klar zum Wenden!«, »Klar vorn!« und auch »Rhe!«, was eine Abkürzung für »Ruder ist in Lee« war. Moses wurde immer experimentierfreudiger und ließ sich auch von kleinen Fehlern nicht entmutigen. Außerdem zeigte er eine große Wissbegier.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Otto.
»Ich kann eine Wende segeln«, erwiderte Moses. »Ich kann das Großsegel zum rechten Zeitpunkt fieren, dichtholen und losschlagen. Ich kann Kommandos geben und weiß, was ich selber tun muss. Und ich kann das Boot in einen günstigen Winkel zum Wind manövrieren. Ich fühle mich gut, sehr gut.«
Während sie ein zweites Mal ankerten und mehrere Brote verschlangen, klarte das Wetter auf. Zwischen Wolkenformationen, die wie schiefe Türme aussahen, zeigte sich immer öfter die Sonne. Auch bekamen sie Gesellschaft. Mehrere gelöschte Obst- und Gemüsekähne befanden sich auf dem Rückweg nach Werder. In einer nahe liegenden Bucht fanden sich Schulbuben ein und ließen Steine über das Wasser springen.
Nachdem Otto seine rechte Hand, die durch das ständige Hantieren mit den nassen Schoten wund gescheuert war, mit einigen Stoffstreifen umwickelt hatte, übten sie den Vor-dem-Wind-Kurs, der bei der Regatta eine wichtige Rolle spielen würde. Obwohl Moses hoch konzentriert war, verloren sie regelmäßig an Stabilität und Fahrt. Dieser Segelkurs erforderte ein hohes Maß an Erfahrung, über das sein Leibdiener noch nicht verfügen konnte.
»Das lerne ich noch«, sagte er.
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Otto und stellte seinen Kragen auf, um seinen Nacken gegen die stärker werdende Sonneneinstrahlung zu schützen. »Ich weiß, dass du mich für größenwahnsinnig hältst, weil ich glaube, dass wir Professor von Trittin schlagen können, aber ich schätze unsere Siegeschancen durchaus realistisch ein. Soll ich dir sagen, warum?«
»Jetzt bin ich aber gespannt«, erwiderte Moses und beschattete seine Augen mit der Hand, um den Verklicker zu beobachten.
»Zunächst einmal sind wir hoch motiviert. Für uns geht es um einen moralischen Sieg über einen arroganten Giftzwerg. Das spornt uns an. Für Professor von Trittin hingegen sind wir keine ernst zu nehmenden Gegner. Er nimmt die Übungsregatta auf die leichte Schulter und geht davon aus, dass er uns um Bootslängen schlagen wird, ohne besondere Vorbereitungen zu treffen.«
»Das mag stimmen, aber du vergisst, dass er über jahrelange Segelerfahrungen verfügt.«
»Pah! Was heißt schon Erfahrungen? Wir haben den Wannsee-Kurs heute zweimal gesegelt. Wir werden ihn morgen, übermorgen und überübermorgen so lange befahren, bis wir jedes Windloch, jede Untiefe und den optimalen Kurs auswendig kennen. Wir werden perfekt vorbereitet sein und hinsichtlich der Regattastrecke über frischere Erfahrungen verfügen als Professor von Trittin. Aber das ist noch nicht alles.«
»Was denn noch?«, fragte Moses.
»Ich habe mich gestern Abend mit dem Platzwart unterhalten«, sagte Otto. »Professor von Trittin segelt normalerweise eine zehn Meter lange Kajütyacht, die mit einem festen Ballastkiel viel träger im Wasser liegt und eine andere Takelung hat. Er nimmt nur an der Übungsregatta teil, um dem Vorsitzenden des Clubs und einigen Segelkameraden zu beweisen, dass er jedes Wasserfahrzeug beherrscht. Ich räume ein, dass er uns in Segelpraxis, Navigation und Regattataktik überlegen ist, aber auch er wird eine Eingewöhnungszeit an Bord brauchen. Und das müssen wir ausnutzen. Wenn am Sonntag der Startschuss fällt, müssen wir uns sofort absetzen. Bis er das Schwertboot beherrscht, haben wir Lindwerder längst umrundet und befinden uns schon auf dem Weg zur Ziellinie.«
»Dein Wort in Gottes Ohr. Und das hattest du alles schon bedacht, als du in die Übungsregatta eingewilligt
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