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Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman

Titel: Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: emons Verlag
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sich die Flasche Kirschwasser und nahm einen langen Schluck. Er konnte förmlich spüren, wie der Alkohol seine Adern flutete und seine Eingeweide wärmte. Jetzt war er wieder ruhiger. Er schenkte sich ein Glas ein und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Nach einem weiteren Schluck entschloss er sich, nicht länger an Dr. Gessken zu denken.
    Er widmete sich einer langen Liste, die ihm der Direktor des Zoologischen Gartens ausgehändigt hatte und ihn zurück auf das sichere Terrain der Ermittlungen führte. Sie enthielt die Namen, Anschriften, Geburtsdaten und die Tätigkeiten aller Zooangestellten. Der Commissarius hatte gestern noch eine Abschrift anfertigen lassen und sie der politischen Polizei – mit der Bitte um Prüfung – überbringen lassen. Wenn keiner der Männer aktenkundig wäre, würde er den Journalisten Fritz Lachmann aufsuchen, der noch in den achtziger Jahren zu den antisemitischen Hetzrednern gezählt hatte, aber mittlerweile ein Aktivist der DFG  – der Deutschen Friedensgesellschaft – geworden war, welche die Pazifisten des gesamten Kaiserreichs repräsentierte. Er war zumindest seiner Radikalität treu geblieben und nutzte jede Gelegenheit, um den alten Weggefährten eins auszuwischen. Der Journalist würde sicher einen Ratschlag haben, wo er ansetzen sollte.
    Der Commissarius legte die Liste beiseite, trank das Glas leer und nahm schon einen Nebel wahr, der sein Hirn angenehm umwölkte. Der Gefühlssturm hatte sich gelegt, und an der Schwere seiner Glieder merkte er, dass er in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen hatte. Er legte den Kopf an die Lehne, streckte die Beine aus und wäre wohl eingenickt, wenn es nicht in diesem Moment an der Tür geklopft hätte. Sogleich nahm er eine aufrechte Haltung an, wie man es von einem Repräsentanten der preußischen Staatsmacht erwarten durfte, und rief: »Nur herein, herein!«
    In der Tür erschien ein verhutzeltes Männchen, das sich den Hut vom Kopf riss und die Krempe mit beiden Händen bearbeitete. Aus seinen Ohren wuchsen kleine graue Haarbüschel. »Bin ich hier richtig bei Commissarius Funke?«
    »Angenehm, Verehrtester. Bitte nehmen Sie doch Platz. Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich bin ein Augenzeuge«, sagte der Mann. »Ich habe etwas gesehen.«
    Sofort war der Commissarius hellwach. Das erste Opfer, Salomon Hirsch, hatte vor seinem Verschwinden das Abendgebet in der Neuen Synagoge besucht. Danach hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht. Funke hatte zwei erfahrene Kriminalschutzleute in die Oranienburger Straße geschickt, um bei den Anwohnern zu fragen, ob ihnen am Abend des zweiten Juni etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Möglicherweise ergab sich nun eine Spur.
    Der Commissarius nahm die Personalien des Mannes auf, der mit Familiennamen Sorge hieß und einmal Buchhalter in einer Kohlehandlung gewesen war. Jetzt wohnte er bei seinem erwachsenen Sohn, und zwar in dem Mietshaus, das direkt neben der Neuen Synagoge stand. Seine Kammer hatte ein Fenster nach vorne raus, von dem er einen guten Blick auf die Straße und die Trottoirs hatte.
    »Mir ist ein Mann aufgefallen, der sich sonderbar benahm«, sagte Herr Sorge. »Es hatte den Anschein, als würde er sich an einem Baum festhalten müssen.«
    »Weil er betrunken war?«, fragte der Commissarius.
    »Nein, nein. Diesen Eindruck machte er nicht. Mir schien es eher so, als hätte er Angst. Zwar beobachtete er den Eingang der Synagoge, aber er warf ständig den Kopf nach links und rechts, als würde er sich verfolgt fühlen. Mehrmals lehnte er auch die Stirn gegen den Baumstamm.«
    »Warum lehnt jemand die Stirn gegen einen Baumstamm?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wie lange stand er da?«
    »Als die Gottesdienstbesucher nach draußen traten und sich in alle Winde zerstreuten, war auch er plötzlich verschwunden.«
    »Das ist in der Tat verdächtig«, sagte Funke. »Wie sah der Mann aus?«
    »Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Dazu sind meine Augen zu schwach, aber ich bin mir sicher, dass er eine Uniform trug.«
    In diesem Augenblick klopfte es, und Wachtmeister Holle trat ein. Er legte dem Commissarius einen Zettel auf den Tisch und sagte: »Das ist die Adresse eines Professors, der germanische Sprachen an der Hochschule Göteborg lehrt. Er hält sich zurzeit in Berlin auf.«
    »Brauche ich einen Dolmetscher?«
    »Er stammt aus Soest, Westfalen.«
    »Danke«, sagte der Commissarius und beobachtete, wie Wachtmeister Holle sein Bureau verließ. Dann wandte er sich dem

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