Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
gesetzt hatte, und rührte die Masse an. Dann schüttete er sie in den Fußabdruck und hoffte sehr, dass sich die Rille gut abzeichnen würde. Damit das Austrocknen nicht durch Niederschläge verzögert wurde, grub er ringsum einen kleinen Deich und baute außerdem ein Dach.
Als er sich – recht zufrieden mit seinem Werk – erhob, stand plötzlich Dr. Gessken neben ihm. Normalerweise sah er den Gerichtsarzt nur in einem Arztkittel und einer blutverschmierten Lederschürze. Deshalb wunderte es ihn, dass der Endvierziger heute einen eleganten Havelock trug, der von einem changierenden weinroten Stoff und im Schulterbereich mit einer auffälligen Nerzpelerine ausgestattet war. Sein Backenbart war adrett gestutzt, und über seinem hübschen Gesicht thronte ein Zylinder mit einem farblich abgestimmten Seidenripsband.
»Das ist ein sehr schöner Mantel, den Sie da tragen«, sagte der Commissarius.
»Eine Anfertigung der Gebrüder Moll«, erwiderte Gessken. »Aber ich kann das Kompliment nur zurückgeben. Heute sind Sie etwas zurückhaltend gekleidet, aber normalerweise finde ich Ihren Stil très chic .«
Französisch spricht er auch noch, dachte der Commissarius und murmelte: »Dass Sie auf so etwas achten.«
»Mir fällt so einiges auf«, erwiderte Gessken, legte den Kopf in den Nacken und ließ ein helles Lachen verlauten. »Jetzt sollten wir uns aber um den armen Mann kümmern.«
Der Gerichtsarzt stellte seine Tasche ab und setzte seinen Zylinder ab. Der ärmellose Havelock war nicht nur elegant, sondern auch praktisch und ermöglichte dem Gerichtsarzt eine größere Bewegungsfreiheit. Seine manikürten Finger zitterten leicht, als sie sich dem Leichnam näherten. Kurz ballte er seine Hände zu Fäusten, schüttelte sie mehrfach und sagte: »Nur ein leichter Tremor, den ich immer bei Schlafmangel bekomme!« Dann untersuchte er den Leichnam und richtete sich nach einigen Minuten wieder auf.
»Den Todeszeitpunkt kann ich Ihnen schon jetzt nennen«, sagte er. »Der Wachtmeister gibt an, den Leichnam gegen vier Uhr in der Frühe gefunden zu haben. Die Totenstarre hat bisher weder am Nacken noch am Unterkiefer eingesetzt. Deshalb gehe ich davon aus, dass Holle den Täter nur knapp verpasst hat. Ich lege mich auf einen Zeitpunkt kurz vor vier Uhr morgens fest.«
»Haben wir es mit demselben Täter zu tun?«, fragte der Commissarius.
»Ich halte das für sehr wahrscheinlich«, erwiderte der Gerichtsarzt. »Sehen Sie die Schnittwunden. Die Wundränder sind wie beim ersten Opfer vollkommen geradlinig und glatt, was wieder für ein sehr scharfes Messer, vielleicht sogar ein Skalpell, spricht. Aufgrund der Knochensplitter nehme ich an, dass die Rippenbogen wieder mit einer Zange durchtrennt wurden. Erneut wurden sie nach außen gebogen und beide Lungenflügel entnommen, aber es lassen sich auch Abweichungen feststellen.«
»Und die wären?«
»Sehen Sie sich doch mal um. Bei Salomon Hirsch gab es zahlreiche Blutspritzer, Rinnsale und Lachen. Bei unserem heutigen Opfer finden sich nur wenige Tropfen. Auch die Gefäße und Kapillaren, die unter der Haut liegen, haben kaum geblutet. Weil die Wunden nach oben gerichtet sind, muss sich das Blut schon vor der Zufügung der Schnitte in den unteren Körperregionen befunden haben. Das ist nur möglich, wenn das Blut nicht mehr zirkuliert ist. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass ihm diese Verletzungen postmortal zugefügt wurden.«
»Frankfurter war also im Gegensatz zu Hirsch schon tot«, sagte der Commissarius. »Woran ist er gestorben?«
»Um mich festzulegen, muss ich einige Untersuchungen vornehmen.«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Frankfurter muss ein starker Raucher gewesen sein«, erwiderte Dr. Gessken und deutete auf die beiden schwärzlichen Fleischlappen. »Das sind seine Lungenflügel. Und sehen Sie diese gleichmäßigen Abdrücke im Gewebe? Das waren vermutlich die Zähne des Täters. Anscheinend wollte er ein Stück abbeißen. Bei dem Versuch ist ihm übel geworden. Er hat uns wieder einen Haufen Erbrochenes hinterlassen.«
Im Affenhaus hatte der Commissarius vergeblich nach Hirschs Atmungsorganen gesucht. Er war davon ausgegangen, dass der Täter sie als Jagdtrophäe mitgenommen hatte. Hier ließ er sie einfach zurück. Warum war er von seinem Handlungsmuster abgewichen? Der gelborange Mageninhalt deutete jedenfalls darauf hin, dass sie es mit demselben Täter zu tun hatten. So viele zartbesaitete Mörder konnte es in Berlin nicht
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