Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
einem strahlend weißen Militärrock hatte sich eingefunden. Jene Herren, die sich weder mit Amt noch mit Würden schmücken konnten, versuchten ihre Männlichkeit durch gewichste Schnurr-, Backen- und Vollbärte zu unterstreichen. Sie standen breitbeinig da, hielten das Kreuz durchgedrückt und verliehen ihrer Stimme einen markigen Unterton. Vermutlich würden sie auch die Ersten sein, die durch Taten ihre Gesinnungstreue unter Beweis stellen würden.
Als er den Tresen erreicht hatte, blickte ihm der Wirt entgegen, der ein rundes Pfannkuchengesicht hatte, in dem die trockenen, entzündeten Augen wie Vogelbeeren aussahen. Otto wusste, dass er nur etwas in Erfahrung bringen würde, wenn man ihn für einen Kameraden hielt. Zu seiner Tarnung musste er auch eine passende Bestellung aufgeben. Obwohl er nach dem anstrengenden Segeltag Lust auf eine kühle Limonade hatte, sagte er: »Eine Molle mit Strippe und eine Tote Oma.«
»Blutwurst ist aus«, sagte der Wirt und stellte mehrere gefüllte Seidel auf den Tresen, die von einem Kellner abgeholt wurden. »Die Küche ist auch schon dicht, aber es gibt noch Soleier.«
»Nur wenn sie von deutschen Hühnern stammen«, erwiderte Otto und fragte sich sogleich, ob eine solche Antwort nicht übertrieben germanisch war. Mit Sicherheit hatten Brandenburger Bauern die Eier angeliefert. Wo sollten sie auch sonst herkommen? Etwa aus Polen? Er sollte gründlicher nachdenken, bevor er den Mund aufmachte. Dem Wirt schien es egal zu sein, und er stellte die Bestellung auf den Tresen.
Otto halbierte die Eier, nahm das Gelbe heraus und gab Öl, Essig und Mostrich hinzu. Schließlich stopfte er sich die würzige Zwischenmahlzeit in den Mund und spülte sie mit dem Kümmelschnaps hinunter. Dann griff er sich das überschäumende Bierglas, stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tresen und schaute sich im Schankraum um, wo nach seinem Eintreten wieder lärmende Normalität eingekehrt war.
Mehrere Studenten mit Verbindungsmützen hatten sich um einen älteren, offenbar blinden Frackträger geschart, in dem Otto den ehemaligen Universitätsprofessor Eugen Dühring erkannte. Sein populäres Buch »Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage« hatte wesentlich zum rassischen Antisemitismus beigetragen. Außerdem hatte er als Universitätsgelehrter dem Judenhass einen scheinbar wissenschaftlichen Anstrich gegeben, der ihn salonfähig gemacht hatte. Gerade dozierte Dühring darüber, dass sich besonders im Nationalliberalismus der verjudete Geist durch seine Prinzipienlosigkeit, seinen rücksichtlosen Materialismus und sein Manchestertum zeigen würde. Seine jungen Zuhörer waren von dem sicheren Jonglieren mit Schlagworten so beeindruckt, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, den Inhalt zu hinterfragen.
In diesem Augenblick betrat ein weiteres bekanntes Gesicht, das Hermann Ahlwardt, dem »Rektor aller Deutschen«, gehörte, den Schankraum. Der wegen Veruntreuung von Schulgeldern entlassene Volksschulrektor hatte erst im vergangenen Jahr als Reichstagsabgeordneter von sich reden gemacht, als er in einer Sitzung die Juden als Cholerabazillen bezeichnet hatte, die auszurotten seien. Während er von den gebildeten Antisemitenkreisen wegen seiner geifernden Reden belächelt wurde, genoss er in den einfachen Bevölkerungsschichten eine große Popularität. Dementsprechend fiel auch die Reaktion der Anwesenden aus. Während die Uniform- und Würdenträger den Blick abwandten, stürzten ihm die Kleinbürger und Arbeiter entgegen, um ihm die Hand zu schütteln und ihn mit Lobeshymnen zu überschütten.
»Ich sehe Ihr Gesicht zum ersten Mal«, sagte Ottos Nachbar heiser. Seine gelben Augäpfel, die geplatzten Äderchen auf den Wangen und die in Mitleidenschaft gezogenen Stimmbänder waren deutliche Anzeichen für einen fortgeschrittenen Abusus spirituosorum , einen fortgeschrittenen Alkoholmissbrauch.
»Kein Wunder«, erwiderte Otto. »Ich bin ja auch zum ersten Mal hier. Angenehm. Mein Name ist Sanftleben. Dr. Sanftleben. Ein Bekannter hat mich auf den Vortrag aufmerksam gemacht und mir diese Restauration empfohlen.«
»Habe die Ehre. Schmitz mein Name. Major a. D. Und wer ist dieser Freund, wenn man fragen darf?«
»Professor von Trittin.«
»Ach, der Emil«, sagte der Major a. D. gleich viel leutseliger. »Freunde von Emil sind auch meine Freunde. Er lässt sich ja nur noch selten bei uns blicken. Bei der Position, die er mittlerweile bekleidet, kann ich das sogar verstehen,
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