Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
aber auf den kann man sich verlassen. Der hilft auch heute noch aus, wenn Not am Mann ist. Woher kennen Sie ihn?«
»Wir sind Segelkameraden im Verein Seglerhaus am Wannsee«, sagte Otto und machte dem Wirt ein Zeichen, ihnen zwei Schnäpse einzuschenken. »Und da kommt man schon mal ins Gespräch, auch über politische Themen. Und woher kennen Sie den Professor?«
»Ach, schon ewig. Der war von Anfang an dabei. Bei der Reichshallenrede von Ernst Henrici, bei der Bock-Versammlung in der Brauerei auf dem Tempelhofer Berge und bei unseren Unternehmungen in der Silvesternacht 80/81.« Der Major a. D. hatte auf das Titelblatt der Zeitung geschaut, die Otto auf den Tresen gelegt hatte und in der von dem Mord an dem Bankier berichtet wurde. »Der Frankfurter kann von Glück reden, dass er erst jetzt kaltgemacht wurde. In der Silvesternacht vor fünfzehn Jahren haben wir ihn schon quer über die Straße gejagt, sodass er sich ins Café Bauer flüchten musste. Der Emil ist zwar nicht groß, aber dafür hat er mehr Feuer im Hintern als wir alle zusammen. Der hat die Fenster vom Café Bauer eingeschmissen und geschrien, dass sie den Bankier rausgeben sollen, damit wir ein Volksgericht abhalten können. Wir waren damals über fünfhundert Mann, vorwiegend Studenten, die für Gerechtigkeit sorgen wollten. Sie müssen sich mal vorstellen, was da los war. Ich glaube, wenn die Polizei nicht eingeschritten wäre, hätte der Emil den Frankfurter aufknüpfen lassen.«
»Professor von Trittin kannte also das Mordopfer.«
»Mordopfer! Wie reden Sie denn? Der ist doch kein Opfer.«
»Ich meine natürlich: Er kannte den Juden!«
»Was für ’ne Frage? Natürlich kannte Emil den. Den kannte doch jeder. Der war der Hauptschuldige an dem Börsenkrach und dem ganzen Schlamassel. Der hat die Kleinanleger um ihre Ersparnisse geprellt.«
Natürlich wusste Otto, dass durch den Börsenkrach von 1873 viele Aktionäre ruiniert worden waren. Sie hatten von dem wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit profitieren wollen und sich auf riskante Investitionen eingelassen, um einen möglichst großen Gewinn zu erzielen. Dann war die Spekulationsblase geplatzt, und sie hatten ihr Geld verloren. Viele Bürger hatten sich nicht eingestehen können, dass sie selber Schuld hatten. Deshalb hatten sie einen Sündenbock gesucht, den sie in den Juden gefunden hatten. Seitdem wurden sie hartnäckig als Drahtzieher und Verantwortliche verleumdet.
Otto ersparte sich die Bemerkung, dass jedermann für sein Handeln selbst verantwortlich war, und fragte stattdessen: »Sie müssen entschuldigen, aber ich stecke noch nicht so tief in der Materie drin wie Sie und Professor von Trittin. Warum sind wir Deutschen eigentlich so gefährdet?«
»Na, das ist doch klar. Wir waren nicht vorbereitet. Wir waren zersplittert in zahllose Königreiche, und es gab keinen Nationalstolz wie in Italien oder Frankreich, wo die Kultur schon eine lange Tradition und viel mehr Widerstandskräfte entwickelt hatte. In unserem ungeordneten Land konnten sich die Juden mit ihrer geschmeidigen Art viel leichter einnisten.«
»Um was zu tun?«, fragte Otto.
»Um die Herrschaft an sich zu reißen, um unsere Frauen zu schwängern und um uns alle zu versklaven!«
Otto hatte von dieser Angst immer wieder gelesen und konnte nicht verstehen, wie ein erwachsener Mann so etwas glauben konnte. »Und was kann man dagegen tun?«
Der Major a. D. Schmitz kippte den Schnaps hinunter, spülte mit Bier nach und wischte sich den Schaum vom Mund. »Zunächst müssen wir die Forderungen durchsetzen, die wir schon vor Jahren in der Antisemitenpetition formuliert haben: ihre Einwanderung einschränken oder noch besser die Grenzen dichtmachen. Ihren Ausschluss aus allen obrigkeitlichen Stellungen, besonders im Justizwesen, durchsetzen. Ihnen die Lehrtätigkeit an Volksschulen verbieten. Und sie wieder in amtlichen Statistiken erfassen, damit sie kontrollierbar bleiben. Ich zähle in dieser Hinsicht zu den Anhängern einer gemäßigten Linie. Wenn man den Herrmann so reden hört«, gemeint war wohl Herrmann Ahlwardt, der »Rektor der Deutschen«, »könnte man denken, dass er am liebsten ein Kopfgeld auf jeden erschlagenen Juden aussetzen würde. Aber natürlich müssen noch viel tiefgreifendere Veränderungen durchgeführt werden.«
»Und die wären?«
»Na, Sie sind mir vielleicht ein Doktor! Sie haben ja von Tuten und Blasen keine Ahnung, was? Zunächst einmal muss der verjudete Reichstag
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