Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
ebenfalls gehört, kurz nach dem Rechten geschaut und sich bereits auf den Rückweg in die Küche begeben hatte. Dann sah er Moses im Garderobenbereich stehen. Er entledigte sich gerade seiner Joppe.
»Wo warst du?«, fragte Otto. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Lass mich zufrieden«, erwiderte Moses und wollte sich an seinem Dienstherrn vorbeischieben.
»Moment«, sagte Otto und hielt ihn am Arm fest. »Wir hatten vereinbart, in einem vernünftigen und respektvollen Ton miteinander zu reden. Eine solche Antwort und ein solches Verhalten kann ich nicht akzeptieren.« Erst jetzt gelang es ihm, seinen Leibdiener genauer in Augenschein zu nehmen. In dem schwarzen Kraushaar steckten zwei Fichtennadeln. Über seine dunkelbraunen Wangen liefen weiße Salzbahnen, als hätte er Tränen vergossen, die getrocknet waren. An seinem Oberhemd fehlte ein Knopf, und der Schnürsenkel seines linken Schuhs stand offen.
»Es hat keinen Sinn«, sagte Moses. »Daran kannst nicht einmal du etwas ändern.«
»Wovon sprichst du?«
»Weißt du, was er gesagt hat?«, fragte Moses.
»Wer denn?«
»Gestern habe ich die Vorlesung ›Allgemeine pathologische Anatomie‹ besucht. Und als mich Professor von Trittin im Hörsaal sitzen sah, nannte er mich einen typischen Vertreter des sogenannten Hosenniggers. Meine Kommilitonen sollten sich nicht durch meine Anwesenheit täuschen lassen. Meine schlechte Stirn und meine stark entwickelten Fresswerkzeuge seien eindeutige Indizien, dass ich nicht die geistigen Voraussetzungen mitbrächte, um ein Universitätsstudium erfolgreich abzuschließen.«
»Ach herrje«, sagte Otto. Es war nicht das erste Mal, dass Moses wegen seiner Hautfarbe beleidigt wurde, aber eine solche Schmährede aus dem Munde eines angesehenen Wissenschaftlers zu hören, musste ihn besonders kränken. »Und dann?«
»Danach bin ich rumgelaufen und habe nachgedacht. Die ganze Nacht lang. Erst in der Stadt und dann durch den Grunewald. Es hört nie auf! Sie werden immer weitermachen. Ich werde immer ein Außenseiter bleiben.«
»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte Otto und griff schon nach der Türklinke. »Komm mit.«
»Wo willst du hin?«
»Ich weiß zufällig, wo sich Professor von Trittin gerade aufhält. Besser gesagt: Ich weiß, wo er sich jeden Samstag von Mai bis Oktober aufhält. Wir statten ihm einen Besuch ab und geben ihm zu verstehen, dass wir uns eine solche Behandlung nicht gefallen lassen.«
»Das bringt doch nichts.«
»Lass das nur meine Sorge sein!«
Wenig später marschierte Otto im Sturmschritt die Große Seestraße hinunter und bog auf das Grundstück des Vereins Seglerhaus am Wannsee ein. Mittlerweile war er so in Wut geraten, dass er sich sehr zusammennehmen musste, um den Namen des Despoten nicht herauszuschreien.
»Lass dich zu nichts hinreißen«, bat Moses, der mittlerweile aufgeschlossen hatte. »Ein Streit würde meine Situation in keiner Weise verbessern, ganz im Gegenteil, er würde nur böses Blut schaffen.«
»Ja, ja«, erwiderte Otto ungeduldig und hielt Ausschau nach Professor von Trittin. Auf dem Rasenplatz stand ein Mast mit einer roten Toplaterne, die immer brannte, wenn gefeiert wurde. Unter den großen Bäumen saßen ältere Damen und nippten an ihren Teetassen. Nahe der Wasserkante passierte der Platzwart die Slipanlage und ging zu dem Steg für die kleineren Boote. Bei der Kegelbahn, die sich bei Flaute großer Beliebtheit erfreute, hielt sich niemand auf.
Otto beschloss, sein Glück im Seglerhaus zu versuchen. Zwei meisterhaft geschnitzte Scheunentore dienten dem Fachwerkgebäude, das mit Butzenscheiben ausgestattet war, als Eingang. Davor saßen einige Vereinsmitglieder an einem Tisch und tranken aus großen Humpen Bier. Gerade als Otto einen von ihnen ansprechen wollte, trat Professor von Trittin in Begleitung eines Segelkameraden ins Freie.
Otto wusste, dass der klein gewachsene Professor studierter Mediziner war und das vierzigste Lebensjahr noch nicht erreicht hatte. Hauptberuflich arbeitete er als Direktor der Afrika- und Ozeanienabteilungen im Königlichen Museum für Völkerkunde. Nachdem er im Fach Anthropologie habilitiert hatte, war ihm im vergangenen Jahr das Prädikat »Professor« verliehen worden. An der Friedrich-Wilhelms-Universität veranstaltete er als Honorardozent Vorlesungen. In Akademikerkreisen galt er als Talent und war mehrfach für seine wissenschaftliche Seriosität gerühmt worden, was sich in seinem Kleidungsstil nicht
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