Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
meine, werde ich ihn künftig umschreiben. Sprechen Sie also nie wieder von ›Rrritualmord‹, wenn Sie ›Rrritualmord‹ meinen. Sprechen Sie fortan von ›Blutmord‹, wenn Sie ›Rrritualmord‹ meinen. Hab ich etwa schon wieder ›Rrritualmord‹ gesagt? …«
Otto hatte in der Zeitung von der Entscheidung des Reichsgerichts gelesen. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Verein zur Abwehr des Antisemitismus hatten das Urteil als großen Erfolg gegen die verleumderischen Agitationen gewertet. Jetzt fiel ihm ein, dass der Mord an dem Zeitungsunternehmer Hirsch unmittelbar nach der Urteilsverkündung stattgefunden hatte. Möglicherweise gab es einen Zusammenhang. Möglicherweise hatte der Täter den Spruch des Reichgerichts als Provokation empfunden und eine blutige Antwort gegeben. Bei ihrem nächsten Treffen musste er den Commissarius unbedingt darauf hinweisen.
»Fünf Jahre sind nun seit dem abscheulichen Mord an dem Knaben Johann Hegmann in Xanten verstrichen«, fuhr der Referent unterdessen fort. »Fünf Jahre, in denen die korrupte Justiz und die verjudete Presse nichts unversucht gelassen haben, um uns über die wahren Hintergründe des Rrritualmordes, ach, ich meine natürlich über die wahren Hintergründe des Blutmordes, zu täuschen. Mein Buch ›Warum brauchen die Juden Christenblut?‹ ist nicht nur ein verzweifelter Aufschrei, um den ermordeten Knaben nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern auch ein flammender Appell an das Volksgewissen, den wahren Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem ist es eine Abrechnung mit den Behörden, denn mir liegen unwiderlegbare Beweise vor, dass Dokumente gefälscht und Zeugen zu einer Falschaussage gezwungen wurden und dass der Richter gekauft war …«
Otto hatte die Lösung. Wenn man statt »Diether« die sehr moderne Form »Dieter« wählte, also das »h« wegließ, und dann die Buchstaben von Vor- und Zunamen in veränderter Reihenfolge zusammensetzte, ergab sich die unmissverständliche Aufforderung »Tret die Judensau!«, die so brutal war, dass er sie schleunigst aus seinem Bewusstsein verbannte.
»Schon seit Menschengedenken wissen wir«, sagte der Referent unterdessen, »dass nur ein Volk frisches Knabenblut braucht, um es in den Teig des Mazzebrotes und in den Pessach-Wein zu tröpfeln, um die Hörner zu behandeln, mit denen ihre Bälger geboren werden, und um ihre düsteren Synagogen einzuweihen. Noch verhöhnen uns die Itzigs mit ausgestrecktem Finger, noch glauben sie, ungestraft davongekommen zu sein, aber ich sage Ihnen: Irgendwann ist das Fass übergelaufen, irgendwann ist es genug. Ich werde jedenfalls nicht aufhören, Gerechtigkeit zu fordern, und ich werde niemals aufgeben, für das Überleben meines Volkes zu kämpfen, auch wenn es meinen eigenen Tod bedeutet. Was tun Sie für Ihr Vaterland? …«
Otto wusste, dass die Ritualmordbeschuldigung im 19. Jahrhundert eine neue Blütezeit erlebt hatte. Den Juden wurde vorgeworfen, dass sie christliche Jungen mit vielen Schnitten und Stichen tödlich verletzen und ihr Blut sammeln würden, um Christus zu verspotten und kultische Handlungen vorzunehmen. Während im Mittelalter schon allein der Vorwurf ausgereicht hatte, damit ein aufgebrachter Mob die Juden erschlagen hatte, hatten die späteren Gerichtsprozesse zutage gefördert, dass die Anschuldigungen haltlos gewesen waren. Entweder waren sie von den verzweifelten Angehörigen eines Mordopfers vorgebracht worden, die in ihrem Schmerz, in ihrer Trauer und in ihrer Wut einen Schuldigen gesucht hatten, oder sie waren von dem wahren Täter geäußert worden, der den Verdacht von sich hatte ablenken und so den Kopf aus der Schlinge hatte ziehen wollen.
Trotzdem hatten Verleumdungskampagnen in Zeitungen eingesetzt und öffentliche Reden den Mob so aufgebracht, dass zahllose Sachbeschädigungen, brennende Synagogen, Misshandlungen, Morde und Vertreibungen die Ergebnisse waren. Nach den gewaltsamen Ausschreitungen war bei vielen unbeteiligten Bürgern der Nachgeschmack geblieben, dass die Juden Unfrieden stiften würden und dass mit ihnen vielleicht etwas nicht stimmen würde. Und der Mob hielt einfach an dem einmal geschaffenen Feindbild fest. Das war auch leichter, als das eigene Gewissen zu strapazieren und zuzugeben, dass man den Falschen verprügelt hatte. Die antisemitische Hetze hatte ihr Ziel erreicht.
Unterdessen fuhr der Referent fort und präsentierte seinem Publikum drei Dokumente. »In
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