Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
aufgelöst werden, damit die heuchlerischen Debatten ein Ende haben. Kompromisse sind ein Grundübel und vor allem völlig undeutsch. Wir sind Soldaten, wir sind Idealisten und Dichter. Nichts gegen den Kaiser, aber wir brauchen einen Mann an unserer Spitze, der uneigennützig, ritterlich und gut ist, einen Mann, der die Seele des Volkes nicht nur kennt, sondern ganz eins mit ihr ist, einen Mann wie Richard Wagner.«
Otto wusste, dass der Opernkomponist ein Antisemit gewesen war und in einschlägigen Kreisen wie ein Messias verehrt wurde. In diesem Moment rief ein Kellner, dass der Vortrag in wenigen Minuten beginnen würde und dass die Herrschaften sich im Saal einfinden sollten.
Otto beobachtete, wie sich auf dem Weg zum Eingang die Männer, die bisher nicht zusammengestanden hatten und sich nun begrüßten, gegenseitig auf den Rücken hauten, wie sie sich in die Seite knufften, wie sie laut lachten und derbe Witze rissen. Diese gemeine Kumpanei sollte die Zusammengehörigkeit stärken, sie sollte eine schnelle Allianz schaffen, um bei dem Vortrag gemeinsam gegen den Feind zu stehen.
Otto trank schnell sein Bier aus und machte sich zusammen mit dem Major a. D. Schmitz auf den Weg.
Da sah er in der Menge einen Mann, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam.
Hotel Kaiserhof
Als der Commissarius kurz vor acht Uhr abends am Hotel Kaiserhof eintraf, um mit dem Experten für germanische Sprachen die Runen zu enträtseln, war er stark alkoholisiert. Betont aufrecht ging er über einen roten Läufer, ließ sich von einem Hotelpagen die Tür aufhalten und stand in der Eintrittshalle. Der Portier begrüßte gerade einige Österreicher, die wohl wegen der Gewerbeausstellung angereist waren.
Funke stakste in die nächste Halle, die schon etwas größer war. Auf hohen Marmorpodesten thronten Palmen in Tonkübeln. An einer Sitzgruppe hielt sich eine Gruppe von elegant gekleideten Damen und Herren auf, die – angesichts der bereitliegenden Spazierstöcke und Umhänge – wohl noch zu einem Amüsement ausgehen würden.
Der Commissarius kramte den Zettel aus der Tasche, den ihm Wachtmeister Holle gereicht hatte, und las: »Prof. Arnolf Rosen, Hotel Kaiserhof am Zietenplatz, Zimmer 159«. Funke überlegte, ob er es zunächst im Speisesaal, in der Weinstube oder im Schreibsalon versuchen sollte, entschied sich aber dagegen, weil er sich die langen Wege nicht zutraute.
So stieg er in den Fahrstuhl und ließ sich in die erste Etage befördern, was deutlich bequemer war. Er lehnte sich mit der Schulter gegen das Kabinengitter und erlaubte sich für einen Moment, die Augen zu schließen. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass Dr. Gessken ihn erpresste. Das war nicht sein Stil, dazu wirkte der Gerichtsarzt zu fesch. So ein Mann würde andere Wege finden, um sich Geld zu beschaffen. Funke wusste auch nicht genau, warum er so barsch reagiert hatte. Vielleicht sollte er sich für sein Verhalten entschuldigen.
Als der Fahrstuhl mit einem Ruck hielt, gab er dem Liftboy ein Trinkgeld, verließ die Kabine und bog auf dem Flur nach links ab. Er kam an dem Gepäckdepot vorbei, wo der Hausdiener gerade Koffer sortierte. Nach dem kleinen Lichthof hielt er sich wieder links und dachte: Ich hab einen Linksdrall. Er fand die Vorstellung amüsant und kicherte. An den Zimmertüren standen die Nummern: »147, 148, 149 …«
Er musste der Richtung nur weiter folgen und kam an einem großen Spiegel vorbei. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, kurz hineinzuschauen. Mon Dieu! Er sah schrecklich aus: blass und vollkommen derangiert. Schnell zupfte er seine Perücke zurecht und kniff sich in die Wangen, damit er ein bisschen Farbe bekam. Dann strich er über sein Jackett, räusperte sich mehrmals und lächelte sich mit tränenden Augen an. Jetzt sah er halbwegs akzeptabel aus.
Nachdem der Commissarius noch ein wenig in der ersten Etage herumgeirrt war, fand er das Zimmer. Es lag zum überdachten Innenhof raus. Er klopfte an, und als ein lautes »Herein« erschallte, trat er ein.
Ein halb nackter Mann stand mitten im Raum und starrte ihm entgegen. Bis auf gestreifte Beinkleider mit Hosenträgern war er unbekleidet. Sein schmaler Oberkörper war mit zahlreichen Leberflecken gesprenkelt und so weiß wie eine gekalkte Wand. Der rechte Bügel seiner Nickelbrille stand vom Ohr ab, und die rotbraunen Haarspitzen waren schweißnass. In einer Hand hielt er einen Taktstock und in der anderen ein Cognacglas, das mit einer goldenen
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