Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
meiner linken Hand halte ich den Bericht eines angeblichen Leichenbeschauers, dem das Gericht Beweiskraft einräumte. Er beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Kehle des fünfjährigen Hegmann mit einem Messer durchtrennt wurde. Der Name des Mannes ist nicht lesbar, und auch nach monatelangen Recherchen gelang es mir nicht, seine Identität aufzudecken. Und hier halte ich die schriftlichen Erklärungen des Kreisphysikus Dr. Bauer und des Kreisarztes Dr. Nünninghof in der Hand. Beide Männer schreiben, dass sie die Obduktion an dem fünfjährigen Knaben durchgeführt und die Ergebnisse in einem Protokoll festgehalten haben, das vor Beginn des Prozesses auf mysteriöse Art und Weise verschwunden sei. Sie schreiben weiterhin, dass der Schnitt von einem Fachmann ausgeführt worden sei und dass sie deshalb davon überzeugt seien, dass die Tat von dem Schächter von Xanten vorgenommen worden sei. Besonders auffällig an dem Leichnam sei nämlich gewesen, dass sich kein Tropfen Blut mehr im Leib des Kindes gefunden habe, er sei vollkommen ausgeblutet gewesen …«
Ein Zuhörer sprang auf die Füße, schüttelte seine Faust und schrie: »Wenn die verdammten Teufel glauben, dass sie ungeschoren davonkommen, dann werden sie noch ihr blaues Wunder erleben.« Der Zwischenruf führte zu spontanem Beifall, frenetischem Jubel und Füßetrampeln.
Otto hatte die Berichterstattung zum »Xantener Knabenmordprozess« verfolgt und wusste deshalb, dass der von dem Referenten beschuldigte jüdische Schächter für die Tatzeit ein lückenloses Alibi hatte, das allen Überprüfungen der Ankläger standgehalten und ihn als Täter – ohne jeden Restzweifel – ausgeschlossen hatte. Deshalb musste es sich bei den schriftlichen Erklärungen entweder um Fälschungen handeln, oder die beiden Mediziner hatten sich vor den antisemitischen Agitationskarren spannen lassen.
Otto begriff nicht, wie ein halbwegs intelligenter Mensch wie der Referent so viel Energie darauf verwenden konnte, ein solches Lügengebäude zu konstruieren und es dann auch noch zu publizieren. Warum unternahm er derartige Anstrengungen, eine Religionsgemeinschaft schlechtzumachen? Warum zog er freiwillig die Missbilligung eines Großteils der Bevölkerung auf sich, die nichts mit den Antisemiten zu tun haben wollten? Warum ging er so weit, dass er seine wahre Identität hinter Pseudonymen verstecken musste? Warum nahm er sogar Geld- und Haftstrafen in Kauf?
Otto schaute sich unter den Zuhörern um und sah glänzende Augen und geballte Fäuste, er sah Tränen der Empörung und hörte heisere Schlachtrufe. Die Zuhörer befanden sich in einem Aufruhr der Gefühle, in einem enthemmten Zustand, wie man ihn sonst nur nach dem Konsum von Alkohol oder anderer Narkotika beobachten konnte. Und endlich begriff Otto, warum sie nicht Vernunft annahmen und dem Antisemitismus abschworen. Sie konnten es nicht. Sie waren süchtig nach dem Hass wie ein Morphinist nach der nächsten Injektion. Jetzt fiel ihm auch ein, was der Journalist Hermann Bahr einmal geschrieben hatte: »Wer Antisemit ist, ist es aus Begierde nach dem Taumel und dem Rausche einer Leidenschaft. Er nimmt die Argumente, die ihm gerade die nächsten sind. Wenn man sie ihm widerlegt, wird er sich andere suchen. Wenn er keine findet, wird es ihn auch nicht bekehren. Er mag den Rausch nicht entbehren.«
Der Referent steigerte sich in eine immer größere Raserei hinein, die seine Zuhörer mitriss und sie ebenfalls entfesselte. Otto war erleichtert, als der Vortrag beendet war. Er musste dem Major a. D. Schmitz noch versprechen, dass er Professor von Trittin die besten Grüße ausrichten würde, dann verabschiedete er sich unter dem Vorwand gesellschaftlicher Verpflichtungen und verließ das Lokal, in dem nun Schnaps getrunken und patriotische Lieder angestimmt wurden.
Draußen atmete Otto tief durch und versuchte seine Beobachtungen mit den Mordfällen in Verbindung zu bringen. Die Mimik, Gestik und Erscheinung der Antisemiten deckten sich mit ihren Aussagen. Sie schwafelten nicht herum, sondern meinten es ernst. Der Antisemitismus würde Männer hervorbringen, die Taten sprechen lassen würden. Männer wie den Mörder von dem Zeitungsunternehmer Hirsch und dem Bankier Frankfurter.
Nach dem Gespräch mit Major a. D. Schmitz wusste er, dass Professor von Trittin beide Opfer persönlich gekannt hatte. So viele Zufälle konnte es nicht geben. Otto war sich sicher, dass er in die Mordfälle verwickelt
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