Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
war, und er würde noch heute Abend Commissarius Funke einen Besuch abstatten.
Kurfürstenstraße
Nachdem Igraine die Wohnungstür geöffnet hatte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Es roch fremd. Außerdem klapperte es in der Dunkelheit so, als wäre ein Fenster nicht geschlossen.
»Hallo«, rief Igraine. »Ist da jemand?«
Sie erhielt keine Antwort und stellte ihre Tasche ab. Dann griff sie nach der Petroleumlampe, die für eine späte Heimkehr bereitstand. Sie zündete den Docht an und schraubte den Glaszylinder auf, sodass der Flur sichtbar wurde. Hier herrschte die gleiche Unordnung wie immer. Sie sah eine schwarze Seidenstiefelette auf dem Boden liegen, daneben einen Samtbeutel und die Spitzenhandschuhe.
Igraine beschloss, die Wohnungstür offen zu lassen, bis sie sich davon überzeugt hatte, dass auch in den anderen Räumen keine Gefahr drohte. So würde sie schnell fliehen können, falls es nötig wäre.
Über die knarrenden Dielen ging sie in ihr Atelier, das ihr auch als Schlafzimmer und Esszimmer diente. Sie blieb stehen und sah sich um. Zwei Staffeleien standen vor dem großen Fenster, auf einer Kommode waren Zeichenutensilien verstreut, und auf dem Boden lagen zusammengeknüllte Skizzen neben Tellern mit Essensresten und der blechernen Kaffeekanne. Auf der anderen Seite des Raumes stand ihr breites Bett; Decke und Kissen waren noch zerwühlt. Auf dem Tisch befanden sich Lehrmaterialen und benutztes Geschirr. Alles sah so aus, wie sie es heute Morgen verlassen hatte.
Sie entzündete zwei weitere Petroleumlampen, die an der Wand hingen und ihr Atelier in einen hellen Schein tauchten. Dann setzte sie ihren Rundgang fort. Als sie in die Küche trat, nahm sie noch einen zweiten, leicht säuerlichen Geruch wahr. Auch das Klappern war lauter geworden, und sie erkannte sofort, dass es von dem Küchenfenster stammte, das nur angelehnt war.
Sie zog das Fenster heran und legte den Verriegelungshebel um. Dann setzte sie sich auf den Rand der Badewanne. Sie sah auf den Holzkohleofen, auf dem sie sich nicht nur ihre Mahlzeiten zubereitete, sondern auch das Badewasser erhitzte. Eine Tür ihres Vorratschrankes stand offen, und Brot, Eier und mehrere Einmachgläser tauchten im Lichtschein auf.
Abgesehen von den Gerüchen konnte Igraine nichts Ungewöhnliches feststellen. Was sollte ein Dieb bei ihr auch stehlen? Sie besaß weder Schmuck noch Kunsthandwerk noch Wertpapiere, die man zu Geld machen konnte. Ihr Gehalt trug sie bei sich, bis es aufgebraucht war und sie sich eine neue Auszahlung abholte. Und wenn sie tatsächlich über eine größere Geldsumme verfügte, weil sie ein Bild verkauft hatte, investierte sie den Erlös in Zeichenutensilien. Sie lebte von der Hand in den Mund. Es gab Tausende Wohnungen in Berlin, wo ein Dieb reichere Beute machen konnte.
Igraine wollte sich schon zurück ins Atelier begeben, als sie plötzlich innehielt. Warum stand der Stuhl in der Ecke, gleich neben den Holzscheiten? Möglicherweise hatte sie vergessen, das Fenster zu schließen, aber diesen Stuhl hatte sie ganz sicher nicht in die Küche gestellt. Und warum lag dort die andere Seidenstiefelette, gleich neben ihren Unterröcken und Miedern, die sie heute Morgen in den Wäschesack gestopft hatte?
Als sie sich hinabbeugte, um ihre Kleidungsstücke zu untersuchen, wurde der säuerliche Geruch stärker. Offenbar kam er von der Sitzfläche des Stuhles. Sie hielt die Petroleumlampe näher dran und erkannte einige vereinzelte Tropfen und mehrere längliche Spritzer einer weißlichen Flüssigkeit, die bereits getrocknet war. Das muss ein Samenerguss gewesen sein, dachte sie und schreckte zurück. Wer benutzt meine Seidenstiefelette und meine Unterwäsche, um auf einen Stuhl zu ejakulieren?
Für einen Moment stieg Panik in ihr auf. Versteckte sich der Mann noch irgendwo? Was hatte er vor? Wollte er sie überfallen? Sie dachte an Flucht. Sie dachte daran, bei ihrer Vermieterin Schutz zu suchen, aber dann nahm sie wieder Vernunft an. Wenn der Mann ihr etwas antun wollte, hätte er auf sie gewartet und sie dann überwältigt. Außerdem hatte er seinen Trieb an ihren Kleidungsstücken befriedigt. Vielleicht erregte ihn das mehr als eine richtige Frau. So etwas sollte es geben – sie hatte schon davon gehört.
Sie griff sich den Stuhl und stellte ihn in die Rumpelkammer. Morgen würde sie entscheiden, was sie mit ihm anfangen würde. Dann setzte sie sich mit einem Glas Milch an den Tisch.
War es möglich, dass Konrad
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