Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Flüssigkeit gefüllt war. Es schien, als hätte er eine dramatische Oper dirigiert und wäre nicht nur der Maestro, sondern auch Orchester und Publikum gewesen.
»Sind Sie Professor Arnolf Rosen?«
»Und Sie?«
Während Commissarius Funke sich kurz vorstellte, bemühte er sich um eine klare Aussprache. Als Repräsentant Preußens konnte er sich ein Lallen nicht erlauben. Deshalb beschränkte er sich auf wenige Sätze, um sein Erscheinen zu erklären.
»Sagen Sie mal – sind Sie besoffen?«, fragte Rosen. »Gegen Trunkenheit ist Trinken immer noch die beste Medizin, sagt mein Hausarzt immer.« Der Professor trat an ein Sideboard, schenkte ein Glas voll und reichte es dem Commissarius. »Nehmen Sie doch Platz. Bitte nehmen Sie doch Platz. Ich freue mich über ein bisschen Gesellschaft.«
»Normalerweise trinke ich nicht im Dienst, aber ein sehr geschätzter Kollege ist heute Vater eines strammen Sohns geworden, und da kann man natürlich nicht ablehnen«, sagte Funke.
»Natürlich nicht«, erwiderte Rosen schwankend.
Der Commissarius holte einen Zettel aus der Tasche, auf den er die Schriftzeichen aus dem Tiergarten gekritzelt hatte: »Können Sie mir sagen, was das bedeutet?«
»Sie trinken ja gar nicht«, beschwerte sich Rosen. »Nun trinken Sie doch erst mal einen Schluck.«
»Aufs Vaterland«, sagte der Commissarius pflichtschuldig, stieß klirrend mit dem Sprachwissenschaftler an und nahm einen tüchtigen Schluck, der ihm heiß die Kehle hinunterrann und ihn tatsächlich etwas belebte. Vielleicht ist an dem Ansatz von Dr. Rosens Hausarzt etwas dran, dachte Funke.
»Zeigen Sie mal her«, sagte Rosen und ließ sich in den benachbarten Fauteuil fallen. Seine nackten Füße legte er auf ein niedriges Tischchen. In dieser Sitzposition hatte er eine beträchtliche Wampe. »Das sind Runen, und zwar stammen sie aus dem ältesten germanischen Alphabet, wie sie auf dem Brakteaten von Vadstena oder der Spange von Charnay zu finden sind. Zu der jüngeren und auch kürzeren Runenreihe können Sie deutliche Unterschiede erkennen. Sehen Sie mal das ›s‹ an oder hier das ›m‹ oder hier auch das ›h‹.«
Der Commissarius hatte sich vorgebeugt und machte: »Hm, hm, hm.«
»Ihr Freund hat …«
»Er ist nicht mein Freund«, stellte Funke richtig und fügte noch – etwas sinnlos – hinzu: »Darauf lege ich Wert!«
»Ich wollte natürlich sagen: Ihr Mörder. Damit meine ich selbstverständlich nicht den Mann, der Sie eines Tages um die Ecke bringen wird, also richtig: Ihren Mörder, sondern den Mann, den Sie verfolgen und selber zur Strecke bringen wollen. Also: Ihr Mörder.«
Funke erwiderte den fragenden Blick des Professors mit glasigen Augen und sagte einfach: »Aufs Vaterland!«
»Aufs Vaterland!«, erwiderte Rosen sofort und trank. »Also Ihr Mörder hat jedenfalls jeder Rune einen Laut zugeordnet. Und die Übersetzung sollte mir schnell gelingen. Warten Sie mal. Aha, aha, aha. Es heißt: ›Odin ist mein Heil‹!«
»›Odin ist mein Heil‹«, wiederholte Funke. »Was soll das bedeuten?«
Rosen schenkte ihnen nach und setzte sich wieder in den Fauteuil. »Nun, ich meine, dass sich der Täter Erlösung erhofft. Dabei sollen nicht nur die Morde, sondern auch die Verwendung der Runen Odin milde stimmen, denn er ist auch der Herr des Geistes, der Weisheit und der Erfinder der germanischen Schrift.«
»So, das wusste ich gar nicht. Gab es bei den Germanen denn Menschenopfer?«
»Und ob. Ich möchte fast sagen, dass die Germanen Experten auf dem Gebiet der Menschenopfer waren. Kennen Sie die Sage von König Aun? Nein? Er wollte nicht sterben, und Odin machte ihm ein Angebot, das er nicht ausschlagen konnte. Für ein langes Leben opferte der herzlose Regent schließlich neun Söhne und wurde so alt, dass er vollkommen senil und hinfällig war.«
»Das klingt nicht nacheifernswert – möchte ich meinen.«
»Menschenopfer wurden auch Tiuz, Wodan, Donar, Thor, Freyr, Fosite dargebracht. Dabei durfte es ruhig brachial zugehen.«
»Brachial, sagen Sie!« Der Commissarius beschrieb die Verletzungen der beiden Opfer.
»Das ist zweifellos ein Blutadler. Aufs Vaterland!«
»Aufs Vaterland«, sagte Funke und kippte den Kopf in den Nacken.
»Der Blutadler wird in Sagas, Skaldengedichten und Eddaliedern erwähnt. Man schnitt dabei dem Feind den Greifvogel in den Rücken, um ihn zu bestrafen und Odin günstig zu stimmen. Nach einigen Überlieferungen wurden die Schwingen durch die nach außen gebogenen
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