Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
in ihre Wohnung eingedrungen war? Sie wusste, dass er in sie vernarrt war, sie wusste auch, dass er ihr manchmal folgte, aber er war eindeutig zu harmlos, zu unentschlossen und zu vergeistigt, um etwas Derartiges zu tun. Er war eher jemand, der im Mondschein ein Sonett schrieb und aller Welt zeigte, wie viele Seelenqualen er für seine Angebetete auf sich nahm. Ihm fehlte auch die kriminelle Energie, um in ihre Wohnung einzubrechen.
Wer dann?
Sie trank einen Schluck Milch und ging im Geiste alle Männer durch, mit denen sie in der jüngeren Vergangenheit Kontakt gehabt hatte. Es waren gut situierte Herren gewesen, wie Galeristen, Museumsdirektoren oder potenzielle Käufer, die fast alle um sie gebuhlt hatten. Einige hatten sich zurückgewiesen gefühlt, weil sie ihren Einladungen und Anträgen nicht entsprochen hatte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen auf diese Weise in ihre Intimsphäre eingedrungen war.
Seufzend schlug sie eine Mappe auf, die auf dem Tisch lag und in der sie die Zeichnungen aufbewahrte, die sie vor zwanzig Jahren von Otto Sanftleben angefertigt hatte. Sie wusste noch genau, was sie so faszinierend an ihm gefunden hatte und was ihr bei ihrer Begegnung auf dem Gut Neukladow sofort wieder aufgefallen war. In seinem Gesicht zeigten sich zwei Gemütsanlagen, die selten vereint auftraten. Nämlich Gutmütigkeit und Kühnheit. Sie hatte versucht, sein Wesen einzufangen, aber es war ihr nicht gelungen. Entweder hatte sie ihn wie ein Schaf oder wie Attila, den Hunnenkönig, aussehen lassen. Es reizte sie, ein neues Porträt anzufertigen.
Mit den Fingern strich sie über seine Wangen und dachte, dass sie ihr freies Leben liebte. Ja, sie bereute es nicht, ihren Weg gegangen zu sein. Trotzdem sehnte sie sich manchmal nach einem Mann, der sie auffing, der sie beschützte und der ihr – in einer Situation wie dieser – sagte, was sie tun musste.
Havel
Er spürte einen Ruck, hörte ein Knirschen und stieß mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Er schlug die Augen auf und sah nichts als Schwärze. Unter ihm spürte er ein Schlingern, Wippen und Schwappen. Erst als er den Blick hob und den funkelnden Sternenhimmel sah, begriff er, dass es Nacht war und er bei Überquerung der Havel eingeschlafen sein musste. Er war ein ganzes Stück mit dem Ruderboot abgetrieben und auf der Insel Kälberwerder aufgelaufen.
Er fluchte in sich hinein, denn jetzt musste er gegen den Strom zurückrudern. Es war kinderleicht gewesen, das Vehikel zu stehlen. Es hatte am Wannsee an einem Steg gelegen, nur mit Hanfseilen festgemacht. Die Ruderstrecke hatte er sich hingegen weniger strapaziös vorgestellt. Wieder und wieder die Riemen durchs Wasser zu ziehen, hatte ihm seine letzten Kraftreserven geraubt.
Die letzte Nacht hatte er nicht nur auf Schlaf verzichtet, sondern er hatte sich auch das Wasser versagt, um nicht vergiftet zu werden, aber jetzt musste er trinken, um seinen Plan fortzusetzen. Er kletterte aus dem Boot und kniete sich ans Ufer. Kurz regte sich Misstrauen in ihm, aber wenn sie etwas in die Havel geschüttet hätten, wären alle Fische gestorben. Bei der Überquerung des Wannsees hatte er mehrere aus dem Wasser springen sehen.
Er formte seine Hände zu einer Schale, tauchte sie unter und führte sie an die Lippen. Er trank, bis er seinen Durst gestillt hatte. Dann stand er auf und stolperte über die kleine Insel auf der Suche nach etwas Essbaren. Er konnte weder Fruchtsträucher noch einen Obstbaum entdecken. Seine Nahrungssuche blieb erfolglos, aber die Flüssigkeitszufuhr hatte ihn so weit gestärkt, dass er sich den restlichen Weg zutraute.
Er stieß das Boot ab und kletterte hinein. Dabei schaukelte es so stark, dass er sich festhalten musste, um sich setzen zu können. Dann griff er nach den Riemen und schaute über die Schulter zurück. Nachdem er die Ruderblätter mehrmals durchs Wasser gezogen hatte, raste sein Herz. Kalter Schweiß brach ihm aus, und für einen Moment hatte er Angst, das Bewusstsein zu verlieren. Er schickte ein Stoßgebet zu Odin. Und tatsächlich funktionierte sein Körper danach wieder.
Er ruderte an der Insel Imchen vorbei und erreichte das Gut Neukladow, wo er das Boot in den dichten Schilfgürtel bugsierte. Dort würde es von niemandem entdeckt werden. Er konnte es kaum erwarten, bis er seine Kostbarkeiten verladen würde. Das Ruderboot würde noch eine entscheidende Rolle spielen.
Potsdamer Straße
Am frühen Morgen saß Otto in der Küche des
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