Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
Commissarius und beobachtete, wie Funke zwei Teetassen füllte und sie auf den Tisch stellte. In seinen eigenen vier Wänden war er immer noch ein Paradiesvogel. Er trug einen roten Fez, einen taubenblauen Kimono und marokkanische Babouchen, die mit einem orientalischen Muster bestickt waren. Trotz dieser Aufmachung war sein Gesicht so fahl wie bei einer Wasserleiche im Winter. Die Hautlappen am Hals sahen aus wie verwelkte Schnittblumen, und seine Hände zitterten.
»Danke«, sagte Otto und pustete auf den dampfenden Tee. »Ich war gestern schon bei Ihnen – so um die elfte Abendstunde.«
»Da war ich noch in der Weinstube im Hotel Kaiserhof«, erwiderte der Commissarius.
»Sie sehen auch etwas übernächtigt aus.«
»Ich habe dort ermittelt. Zugegebenermaßen in einem feuchtfröhlichen Milieu, aber ich habe neue Erkenntnisse gesammelt. Ich brauche jetzt dringend ein Gläschen Schaumwein, um mich zu erquicken. Möchten Sie auch?«
»Ich habe schon gefrühstückt«, erwiderte Otto. »Von welchen Erkenntnissen sprechen Sie?«
Während der Commissarius eine Flasche entkorkte, berichtete er von den Runen, die am zweiten Tatort in die Eiche geritzt waren. Er erzählte von dem Brauch der Germanen, Menschenopfer darzubringen, und erklärte, was ein Blutadler war. »Außerdem war mir in einigen antisemitischen Schriften aufgefallen, dass die Begriffe Deutscher, Germane und Arier ständig durcheinandergeworfen wurden. Professor Arnolf Rosen hat mir erklärt, dass sehr wohl Unterschiede bestehen.«
»Ich weiß«, sagte Otto. »Ein Deutscher ist ein deutscher Staatsbürger oder auch ein Volksdeutscher. Ein Germane ist ein Angehöriger der Stämme, die ursprünglich an den Nord-, West- und Südstränden der Ostsee beheimatet waren und sich später auch in Mitteleuropa und Skandinavien ansiedelten. Ihre Zuordnung zum Volk der Germanen wird aufgrund der gemeinsamen Sprache vorgenommen.«
»Das ist eine verkürzte, aber wohl halbwegs richtige Darstellung«, sagte der Commissarius und trank das erste Glas Schaumwein in einem Zug aus. Er hielt noch rechtzeitig die Hand vor den Mund, bevor er mit hochgezogenen Brauen aufstieß. »Und was wissen Sie über die Arier?«
»Ich weiß, dass das ein Begriff ist, der in der jüngeren Vergangenheit von Antisemiten und Rassisten häufiger benutzt wird. Und ich weiß auch, dass die Arier einem weißen Volksstamm mit besonderen Qualitäten angehören sollen, der aus dem indischen Raum stammen soll. Auf dem Seeweg und über das asiatische Festland sollen sie in ferne Gegenden vorgedrungen sein. Überall, wo sie sich niederließen, sollen Hochkulturen entstanden sein. So sollen die Ägypter, Assyrer und Griechen ihre Errungenschaften den Ariern verdanken. Auch die Germanen sollen aus diesem weißen Volksstamm hervorgegangen sein. Wenn Sie mich fragen, hört sich diese Theorie nach einer schrulligen Gutenachtgeschichte für den antisemitischen Nachwuchs an.«
»Wissen Sie, was ich an Ihnen so schätze, mon cher Docteur ?«
»Na, was denn?«
»Sie wissen so viel, dass ich in Ihrer Gegenwart kaum nachdenken muss. An einem Tag wie diesem ist das ein Segen. Aufs Vaterland.«
Otto fragte sich, warum Funke sich so gehen ließ. Er hatte zwar schon immer viel getrunken, aber er hatte sich meistens unter Kontrolle gehabt. Seine Ermittlungen hatten nur selten gelitten. Bedrückte ihn etwas? Jedenfalls zeigte der Schaumwein allmählich Wirkung. Sein Gesicht sah rosiger aus, seine Augen nahmen einen lebendigen Glanz an. Natürlich würde diese Besserung nicht von langer Dauer sein.
»Ich muss Ihnen dringend erzählen, was ich herausgefunden habe«, sagte Otto und berichtete von seinem Besuch im Völkerkundemuseum und dem Abstecher ins »Bayreuther Eck«. Er beschrieb seine Beobachtungen hinsichtlich des Antisemitismus als Massenbewegung. Er erläuterte seine Vermutung, dass die Morde die Antwort auf eine Entscheidung des Reichsgerichts sein könnten. Außerdem beschrieb er den radikalen Charakter von Professor von Trittin und schloss mit der Feststellung, dass dieser beide Mordopfer gekannt hatte und den Bankier Frankfurter schon bei Ausschreitungen in der Silvesternacht 80/81 hatte aufhängen wollen.
»Das sind verdächtige Umstände«, sagte der Commissarius.
»Warum haben Sie nicht auf mein Telegramm geantwortet, das ich Ihnen nach meinem Besuch im Völkerkundemuseum geschickt habe?«
» Excusez-moi, mon cher Docteur! Es kann sein, dass ich das Telegramm übersehen habe. In den
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