Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
könnte unser Mörder sein. Stresow, schnappen Sie sich den Mann. Los, nun machen Sie schon.« Es juckte Funke, selbst die Verfolgung aufzunehmen, aber er hatte sich vor einigen Jahren das Knie verdreht. Seitdem konnte er sich nur noch im Schritttempo fortbewegen.
Der korpulente Kriminalschutzmann holte tief Luft, winkelte die Arme an und rannte los. Er musste in seinen Taschen etwas Metallisches, vielleicht Kleingeld, stecken haben, denn es klimperte laut. Sein Hüftspeck und sein rundes Gesäß gerieten in Wallung. Unterdessen schob sich die Gestalt tiefer ins Gebüsch. Die Zweige federten nach und standen dann still. Der Verdächtige war verschwunden.
»Stresow«, rief der Commissarius, »legen Sie mal einen Zahn zu. Sonst entwischt Ihnen der Kerl noch.«
»Da ist Herr Wolfssohn ja«, sagte Herr Jutrosinski. »Er sitzt auf der anderen Bank in der Sonne!«
» Un grand merci à eux « , sagte der Commissarius erleichtert und begab sich zu dem Großindustriellen. Kurz überlegte Funke, ob er Herrn Wolfssohn bitten sollte, sich in den Schutz des Waisenhauses zu begeben, aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass der Mörder plötzlich mit einer Flinte auf Menschenjagd ging. Der Täter wollte Odin ein Opfer darbringen und folgte dabei bestimmten Riten. Dazu müsste er den Großindustriellen erst entführen, und dazu würde es jetzt nicht mehr kommen.
»Bonjour, Monsieur Wolfssohn«, sagte Funke. »Sie glauben ja gar nicht, wie erleichtert ich bin, Sie hier anzutreffen.«
Bei dem folgenden Gespräch stellte sich heraus, dass der Großindustrielle über die Morde im Bilde war. Trotzdem wollte er nicht unter Polizeischutz gestellt werden und sagte, dass er schon seit Jahren angefeindet werden würde und sich an die Drohungen gewöhnt habe. Der Commissarius überzeugte ihn davon, dass die Gefahr größer als gewöhnlich war. Schließlich hatte Isaac Wolfssohn ein Einsehen. Danach saßen die beiden Männer auf der Parkbank und warteten auf die Rückkehr von Kriminalschutzmann Stresow.
»Vielleicht können Sie mir in der Zwischenzeit helfen, die Welt des Täters besser zu verstehen«, sagte der Commissarius. »Es gibt da eine Sache, die ich nicht begreife. Wo kommt der ganze Hass gegen die Juden her?«
»Das ist eine Frage, die ich mir schon mein ganzes Leben stelle«, erwiderte Isaac Wolfssohn.
»Sie müssen doch eine Idee haben.«
»Gründe gibt es viele, aber ob Sie genügen, um dieses Phänomen zu erklären, wage ich zu bezweifeln.«
»Fangen Sie einfach an. Ich suche mir raus, was für mich interessant ist.«
»Seit der Verschleppung der Juden nach Babylon, seit unserer Vertreibung aus Jerusalem, lebten wir verstreut. Überall waren wir Fremde. Wir kamen aus einem fernen Land und hatten eine eigene Sprache. Wir kleideten uns anders, wir aßen andere Speisen und hatten andere religiöse Gebote. Obwohl wir niemandem etwas zuleide taten und in Frieden lebten, fielen wir sofort auf. Und das hat vermutlich schon ausgereicht. Seit jeher fürchten sich die Menschen vor dem Unbekannten. Und um keine Angst zu haben, wurde das Fremde eben beseitigt.«
»Sie sprachen von mehreren Gründen.«
»Die antijüdischen Erlasse seit dem zwölften Jahrhundert haben uns besonderen Schaden zugefügt. Sie wissen vielleicht, dass wir aus den Zünften ausgeschlossen wurden und es uns verboten war, ein Handwerk auszuüben. Und weil die Christen keine Zinsen nehmen durften, blieb für uns nur die Geld- und Pfandleihe übrig, die schon immer gering geschätzt wurde. Als wir uns notgedrungen in diesem Berufszweig gewisse Fertigkeiten aneigneten, galten wir als Halsabschneider. Wenn wir das verliehene Geld zurückhaben wollten, wurden wir als Blutsauger beschimpft. Innozenz III . machte alles noch schlimmer, als er uns aus allen öffentlichen Ämtern ausschloss und eine Kennzeichnungspflicht festlegte. Sicher kennen Sie noch den spitzen Hut oder den gelben Fleck, die wir später wie ein Kainsmal tragen mussten, damit auch gleich jeder wusste, dass mit uns etwas nicht stimmte und dass man sich in Acht nehmen musste.«
»Aus Karikaturen kenne ich diese Hüte«, erwiderte der Commissarius. »Glücklicherweise ist die Kennzeichnungspflicht ja aufgehoben worden.«
»Für wie lange?«, fragte Wolfssohn. »Die antisemitische DSRP hat bereits sechzehn Reichstagsmandate. Wenn sie weiterhin so viele Wählerstimmen gewinnt und an politischem Einfluss zunimmt, wird die Wiedereinführung der Kennzeichnungspflicht nur noch eine Frage der Zeit
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