Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
vor dem Café Bauer dabei gewesen war. Der Name des Wissenschaftlers tauchte immer wieder auf. Vielleicht hatte Dr. Sanftleben doch recht. »Was wissen wir über den Hintergrund des Mannes?«
»Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen, vier Jahre Volksschule, danach wechselnde Beschäftigungen bis zu seiner Anstellung im Zoo. Dort arbeitet er seit fünfzehn Jahren in unterschiedlichen Funktionen. Zweimal ist er wegen Trunkenheit im Dienst aufgefallen, aber ansonsten soll er zuverlässig sein. Verheiratet ist er mit Emilie Wolter, geborene Seltsam. Fabrikarbeiterin. Die Eheleute haben zusammen vier Kinder, die alle schon berufstätig sind.«
»Trägt er im Dienst eine Uniform?«
»Natürlich.«
»Was ist Ihr Eindruck von dem Mann?«
»Er gehört zur Gefolgschaft von Herrmann Ahlwardt und ist regelmäßig bei den antisemitischen Stammtischen im ›Bayreuther Eck‹ anzutreffen. Deshalb können wir ihn zweifellos der radikalen Seite zuordnen. Allerdings ist er niemand, der den Ton angibt. Er ist eher ein Befehlsempfänger, der die groben Arbeiten erledigt und zuschlägt.«
»Dann ist er nicht unser Mörder. Der interessiert sich für germanische Mythologie, übt sich in der Runenschrift und muss sich bei seinen Taten regelmäßig übergeben, vermutlich weil ihm schlecht wird. Er ist ein Sonderling und kein brutaler Schläger.«
»Das sehe ich genauso. Die ganze Planung, die den Morden vorausgegangen ist, hätte Wolters geistige Fähigkeiten auch überstiegen.«
»Trotzdem kann er zumindest bei dem Mord im Zoologischen Garten eine wichtige Rolle gespielt haben. Der Täter könnte Kontakt zu ihm aufgenommen und nach dem Schlüssel oder einem Abdruck verlangt haben. Wo wohnt er?«
»Ich habe bereits drei Kollegen hingeschickt.«
»Ausgezeichnete Arbeit, Stresow. Wenn Sie ihn zu Hause nicht antreffen, versuchen Sie es zunächst im Zoo und dann im ›Bayreuther Eck‹. Wenn er da nicht ist, schicken Sie einen Mann zu Fritz Lachmann. Warten Sie, ich schreibe seine Adresse auf«, sagte der Commissarius, notierte mit einem Bleistift den Namen und die Straße mitsamt Hausnummer auf einem Zettel und reichte ihn dem Kriminalschutzmann. »Lachmann war in den achtziger Jahren ein radikaler Hetzredner. Mittlerweile ist er Journalist und engagiert sich in der Deutschen Friedensgesellschaft, aber er ist mit der antisemitischen Bewegung vertraut wie kein anderer. Falls unser Mann untergetaucht sein sollte, kennt Lachmann garantiert den Unterschlupf.«
»Jawohl«, erwiderte Stresow.
»Wenn Sie den Tierpfleger erwischen, möchte ich umgehend benachrichtigt werden. Ich fahre heute Abend raus an den Wannsee, zu Dr. Sanftleben, ab Mitternacht bin ich dann wieder zu Hause anzutreffen.«
»Jawohl«, erwiderte Stresow.
Nachdem der Kriminalschutzmann gegangen war, blätterte der Commissarius die dünne Akte des Tierpflegers durch, die keine weiteren Informationen enthielt. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie vor einen Durchbruch standen. Die Befragung von Winfried Wolter würde sie auf die Spur des Täters bringen. Der Ring zog sich zusammen.
Schließlich griff der Commissarius nach seinem grauen Jackett und dachte, dass es keinen Grund mehr gab, sich weiterhin unauffällig zu kleiden. Von dem Erpresser würde er sich nicht mehr einschüchtern lassen. Deshalb würde er noch zu Hause vorbeifahren und eine angemessene Garderobe anlegen. Ach, wie er sich freute, wieder Farben tragen zu können. Die spöttischen Bemerkungen seiner Kollegen würde er gerne in Kauf nehmen.
Draußen auf dem Gang kam ihm Wachtmeister Holle entgegen. Er sah ausgetrocknet, blass und abgemagert aus und würdigte ihn keines Blickes. Eine andere Reaktion war auch nicht zu erwarten gewesen.
Nach dem Vorfall im jüdischen Waisenhaus hatte der Commissarius Meldung gemacht, aber sein Vorgesetzter, der Kriminaldirigent, hatte die Vorfälle heruntergespielt und auf Holles Verdienste verwiesen. Der Commissarius war seiner Linie treu geblieben und hatte klipp und klar gesagt, dass er mit dem Wachtmeister nicht mehr zusammenarbeiten könne. Daraufhin hatte sich der Kriminaldirigent die Einleitung disziplinarischer Maßnahmen vorbehalten. Mehr war nicht geschehen.
Der Commissarius überlegte nun, ob es Sinn machte, Wachtmeister Holle zu den Morden zu verhören. Als Antisemit konnte er möglicherweise etwas zu den Ermittlungen beitragen. Andererseits gab es so viele Judenfeinde in Berlin, dass nicht jeder von ihnen etwas wissen konnte.
»Klein-Sanssouci«
Otto
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