Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
entwickeln formelle Umgangsformen, die über ihr wahres Empfinden hinwegtäuschen. Ist Ihnen – mal abgesehen von seinen abfälligen Äußerungen und seiner mangelnden Körperpflege – etwas Ungewöhnliches an Holle aufgefallen?«
»Was meinen Sie konkret?«, fragte der Commissarius.
»Hat Holle Selbstgespräche geführt? Hat er Vorgänge beobachtet und sich heimlich Notizen gemacht? Verzehrt er nur bestimmte Mahlzeiten und nur zu bestimmten Uhrzeiten? Schneidet er sich Zeitungsberichte aus und tapeziert damit die Wände? Blickt er sich ständig um, als würde er verfolgt werden?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte der Commissarius. »Ich arbeite seit Jahren mit ihm zusammen, aber nach allem, was ich heute über ihn erfahren habe, habe ich das Gefühl, dass ich ihn überhaupt nicht kenne.«
In diesem Augenblick beobachtete Otto, wie Daniele Vicente sich am Arm kratzte, der von einem Verband umwickelt war. »Was hast du da eigentlich?«, fragte er.
»Ach das! Das ist nichts. Das ist nur ein Tick von mir. Ich bin früher in den Häfen von Kapstadt und Montevideo ausgeraubt worden und stand beide Male ohne Mittel da. Das war eine Erfahrung, die ich nicht noch einmal durchmachen möchte, das kannst du mir glauben. Seitdem trage ich in dem Verband immer einen Notgroschen bei mir. Ich weiß, dass er schlimm aussieht, aber das soll er auch.«
»Hm«, machte Otto. »Wie sollen wir jetzt vorgehen?«
»Am besten –«, setzte der Commissarius an.
»Ach, warten Sie einen Augenblick«, unterbrach ihn Otto. »Mir ist da noch etwas eingefallen, das von Bedeutung sein könnte. Igraine hat dem ersten Verdächtigen ein Alibi gegeben. Außerdem kannte sie alle Opfer persönlich. Vor Kurzem ist jemand in ihre Wohnung eingebrochen. Kannst du dir vorstellen, dass sie etwas mit den Ritualmorden zu tun hat?«
»Igraine?«, erwiderte Daniele Vicente. »Das glaube ich nicht.«
»Mir hat sie erzählt«, sagte der Commissarius, »dass jemand in ihre Wohnung eingebrochen wäre, um sich an ihrer Unterwäsche zu vergehen.«
»Das höre ich zum ersten Mal«, sagte Otto. »Aber ich frage mich, inwieweit eine solche Obsession zu den Ritualmorden passen könnte.«
»Warum siehst du mich so an?«, fragte Daniele Vicente. »Ich bin bestimmt kein Kostverächter, aber ich bin recht einfach gestrickt. Frauen aus Fleisch und Blut sind mir lieber als ihre Unterwäsche.«
»Das glaube ich dir sofort«, sagte Otto. »Bitte denk jetzt nach. Es ist wichtig. Hat Professor von Trittin Igraine einmal erwähnt?«
»Einmal?«, erwiderte Daniele Vicente. »Eine Zeit lang war er geradezu besessen von ihr. Du musst wissen, dass sein Verhältnis zur Damenwelt etwas speziell ist.«
»Inwiefern speziell?«
»Für ihn gibt es nur Göttinnen, die weit über ihm stehen, oder Schankdirnen, die mit Krankheiten verseucht sind und so weit unter ihm rangieren, dass sie nicht den Dreck unter seinen Fingernägeln wert sind. Igraine stand eine Zeit lang ziemlich weit oben.«
»Was heißt das?«
»Nun, er hat mir gegenüber geäußert, dass er in ihr seine Walküre erkannt hätte. Manchmal hat er sie auch ›meine Fylgja‹ genannt, aber nachdem sie mehrfach mit Wilhelm Maharero gesprochen und ihn sogar gezeichnet hatte, war sie für ihn nur noch eine Hure, die zu nichts zu gebrauchen war, als männliche Lust zu befriedigen.«
»Kann mich mal jemand aufklären, was diese Bezeichnungen bedeuten sollen?«, fragte der Commissarius.
»Eine Fylgja«, erwiderte Daniele Vicente, »ist in der nordischen Sagenwelt ein weibliches Geistwesen, das sich ihren Besitzern bei wichtigen Ereignissen, besonders vor dem Ableben, zeigt. Darin ist sie den Walküren ähnlich, die auf dem Schlachtfeld umherwandeln und die tapfersten Krieger auswählen, um sie auf ihren Pferden nach Walhall zu geleiten.«
»Könnte Igraine für den Täter eine Walküre sein?«, fragte Otto. »Könnte vielleicht sogar ein Zusammenhang mit der Runeninschrift ›Odin ist mein Heil‹ bestehen?«
»Von Professor Rosen, dem Experten für germanische Sprachen, weiß ich«, sagte der Commissarius, »dass sich der Täter vermutlich nach Erlösung sehnt. Durch die Morde und die Verwendung der Runen will er sich einen Platz in Walhall, der Halle der Gefallenen, verdienen. Seinem Selbstverständnis nach ist er offenbar ein germanischer Krieger, der sich mitten in einer Schlacht mit Juden und Negern befindet. Vielleicht will er nichts dem Zufall überlassen und hat sich seine Walküre, die ihm den Weg nach
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