Mord in Der Noris
wohnten
zur Miete, uns gehörte zwar nach wie vor eine Wohnung in der Eichendorffstraße,
aber dabei handelte es sich nur um eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Für eine
vierköpfige Familie viel zu klein. Claudia musste die Sachen ihrer Schwester
auftragen, während es für Elvira weiterhin natürlich nur das Beste vom Besten
gab. Ich erzähle das so ausführlich«, wandte sie sich direkt an Heinrich, »um
Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie unterschiedlich die beiden Mädchen aufgewachsen
sind.«
Erneutes verständnisvolles Nicken von Heinrichs Seite.
»Aber es geht noch weiter. 1985 starb mein Mann. Und
bei der Testamentseröffnung erfuhr ich dann, dass er etliche Jahre vorher die
Zwei-Zimmer-Wohnung in der Eichendorffstraße auf Elviras Namen hat
überschreiben lassen. Heimlich, hinter meinem Rücken! Dadurch hatte er mir mein
Recht an dem Pflichtteil genommen, ganz bewusst genommen. Können Sie sich eine
derartige Gemeinheit vorstellen?«
Mit funkelnden Augen und geröteten Wangen im altersblassen
Gesicht starrte Apolonia Rupp Heinrich an.
»Um welche Art Immobilie handelte es sich denn
dabei?«, fragte Paula, der diese Wut nach immerhin dreißig Jahren
unverständlich erschien.
»Um die damals noch gut vermietete Zwei-Zimmer-Wohnung
in Erlenstegen, in die Elvira dann vor zwölf Jahren selbst eingezogen ist. Ich
war wie vom Donner gerührt, als der Notar mir das Testament vorlas. Und Elvira
hat ohne zu zögern oder mich beziehungsweise ihre Schwester zu fragen, das Erbe
angetreten. Sie hat sich nicht geschämt, ihrer Mutter und ihrer Schwester das
vorzuenthalten, was uns doch eigentlich allen gemeinsam zustand. Claudia und
ich hatten in diesem Punkt aber keine rechtliche Handhabe gegen sie. Wir hatten
keine Chance.«
»Ich verstehe«, meldete sich Heinrich zu Wort. »Und zu
diesem Zeitpunkt haben Sie dann wohl den Kontakt zu Ihrer älteren Tochter
abgebrochen?«
»Nein, noch nicht. Es war ja der letzte Wille meines
Mannes. Also haben wir das respektieren müssen, schweren Herzens natürlich.
Aber erwartet hatten wir uns doch eine Art finanziellen Ausgleich für diese
einseitige Bevorzugung. Ich finde, das hätte sich gehört. Doch da haben wir bei
Elvira auf Granit gebissen. Keine Mark oder später: keinen Euro haben wir von
ihr gesehen, nichts, rein gar nichts. Schließlich haben Claudia, ihr Mann und
ich das akzeptiert – es war ja in erster Linie nicht ihr Verschulden, sondern
das meines Mannes –, auch wenn uns das nicht leichtgefallen ist, das können Sie
mir glauben.«
»Dann sind Sie also auch weiterhin in Verbindung
geblieben?«, fragte Heinrich, der gleichzeitig zur Tasse griff, um seinen
zweiten Schluck von dem nun kalt gewordenen Kaffee zu nehmen.
»Ja, wenn auch deutlich eingeschränkt, also nur auf
das gesellschaftlich Notwendigste beschränkt. Das heißt: Die Familie traf sich
weiterhin zu den üblichen Anlässen, zu Ostern, Weihnachten, bei der Hochzeit
von Claudia und den Taufen ihrer beiden Töchter. Das verlangte schon allein der
Anstand«, betonte Frau Rupp förmlich.
Nur auf das gesellschaftlich Notwendigste beschränkt?
Das widersprach allerdings der Aussage von Frau Vogel, die von einem
wöchentlichen Besuchsrhythmus erzählt hatte. Paula entschied, diesen Gegensatz
hier und jetzt nicht zu hinterfragen. In dem Fall glaubte sie der Mutter, nicht
der Nachbarin.
Apolonia Rupp ließ einige Sekunden verstreichen, bevor
sie wieder unvermittelt heftig sagte: »Elvira hatte mehrere Laster, aber ihr
größtes war der Geiz. Sie war von ihrer Habsucht regelrecht zerfressen. Wenn
wir etwas von ihr bekamen, dann waren das Geschenke, die sie selbst erhalten
und für die sie keine Verwendung hatte. Stellen Sie sich vor, sie hat ihrem
Patenkind, also einer meiner beiden Enkelinnen, und zwar der jüngeren, den
Roman ›Joseph und seine Brüder‹ von Thomas Mann zu deren sechsten Geburtstag
geschenkt! Ein Buch von irgendeinem dieser Buchclubs, also was ganz Billiges,
wenn sie es nicht selbst von ihren Alten im Heim erhalten hatte.«
Nach einem missbilligenden Kopfschütteln fuhr sie
fort: »Und ihr Geiz wurde immer schlimmer. In den letzten Jahren habe ich von
meiner Tochter gar nichts mehr bekommen, obwohl ich ab und an Wünsche geäußert
habe. Sie sagte immer, ich hätte ja schon alles, was ich brauche.«
»Vielleicht hängt dieser Geiz, wie Sie es nennen, mit
ihrer Sammelleidenschaft zusammen? Ihre Tochter war wohl das, was man gemeinhin
einen Messie nennt«, sagte Heinrich, als ihm
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