Mord in Der Noris
nochmals: Mangelnde Liebe in der Verwandtschaft, gerade
zwischen den Generationen, ist gang und gäbe und mit Sicherheit kein
Verbrechen.«
»Du warst nicht dabei, Heinrich. Das hatte mit
mangelnder Liebe nichts mehr zu tun, da war schon Abscheu, ja richtiger Hass im
Spiel. Aber weißt du, dass mich das ausgerechnet von dir schon sehr überrascht.
Du magst doch deine Großmutter auch …«
»Was heißt hier: Ich mag sie? Ich liebe meine Oma.
Über alles. Und zwar unter anderem vielleicht auch deswegen, weil ich als Kind
nicht das allerherzlichste Verhältnis zu meinen Eltern hatte. Ich weiß also,
wie das ist, wenn man sich innerhalb der Familie gleichgültig ist.«
Das war neu für sie. Wer noch mal hatte ihr erst vor
ein paar Monaten erzählt, seine Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben
gekommen, als er noch ein Baby gewesen war?
»Gut, dann hast du ja im Gegensatz zu mir keine
Aversionen gegen Frau Rupp – dann kannst du ja auch die Gespräche mit ihr
führen. Da kommt bestimmt mehr raus, als wenn ich das alleine mache.«
»Gerne, mir macht das nichts aus.«
Paula erinnerte sich an das Versprechen, das sie sich
selbst gegeben hatte: den Fall unbedingt vor Eva Brunners Rückkehr zu lösen.
»Schön. Wir müssen wissen, ob unser Opfer noch weitere
Verwandte hatte. Dann müssen wir den Exmann sprechen und auch in das Altersheim
fahren, wo die Platzer gearbeitet hat. Und die Nachbarn befragen. Was möchtest
du davon übernehmen, und was soll ich machen?«
Dass sie mit diesem großzügigen Angebot Heinrich die
Wahl der Befragungen frei überlassen und damit die Rolle zwischen Chefin und
Mitarbeiter getauscht hatte, merkte sie erst, als es bereits ausgesprochen,
also zu spät war. Dabei wollte sie nach dem Desaster mit der Brunner doch mehr
darauf achten, dass sie ihrer Führungsfunktion bewusster und professioneller
nachkam.
»Warum machen wir das alles nicht gemeinsam? Wir haben
doch Zeit. Oder gibt es irgendwelche Terminvorgaben von oben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Von oben nicht, bis jetzt
zumindest nicht. Aber ich würde den Fall gerne abschließen, bevor …«
»… die Eva wieder da ist. Das schaffen wir doch
auch so locker, Paula. Du hast die Adressen des Exmannes und von dem
Altersheim, ja? Dann fahren wir zuerst zu dieser Rupp und fragen nach weiteren
Verwandten. Bei der Gelegenheit kann ich dann auch den weinroten Telefonschoner
eingehend begutachten, von dem du mehrfach so verlockend gesprochen hast.« Er
sah sie mit einem spitzbübischen Lächeln an.
»So machen wir es. Und wenn du dich an dieser Zierde
der gehobenen Inneneinrichtung sattgesehen hast, kannst du die Besitzerin auch
mal nach den näheren Gründen fragen, die zu dieser heftigen Abneigung gegenüber
ihrer Tochter geführt haben. Denn deren Berufswahl und ihre staubige
vollgestellte Wohnung allein können es ja nicht gewesen sein.«
Eine Dreiviertelstunde später standen sie vor dem
Hochhaus in der Pilotystraße. Die Tür sprang, wenige Sekunden nachdem sie
geklingelt hatte, auf. Als sie neben Heinrich die Treppen hochstieg, musste sie
lächeln. Sicher hatte die Rupp nach ihrer gestrigen Drohung, sie würde bald wiederkommen,
den Vormittag wartend hinter den blütenweißen Stores verbracht. Sie war
neugierig, wie die beiden Telefonschoner-Besitzer miteinander zurechtkämen.
Vielleicht reichte diese Gemeinsamkeit aus, damit Apolonia Rupp über den in
ihren Augen sicher unangemessenen Aufzug Heinrichs hinwegsah? Obwohl … Nein,
das glaubte sie nicht. Für die alte Frau war ein Polizeibeamter mit halblangem
grisseligem Haar, das in übermütigen Wirbeln nach allen Seiten vom Kopf
abstand, und einem einfachen schwarzen T-Shirt sicher etwas, was sich nicht
gehörte.
Sie wurden oben bereits erwartet. Frau Rupp schenkte
ihr wie schon gestern diesen ablehnenden misstrauischen Blick, während sie
Heinrich, der sich als »Mitarbeiter von Kriminalhauptkommissarin Steiner, Herr
Bartels« vorstellte, aufmerksam und mit einem verbindlichen Lächeln musterte.
»Kommen Sie doch bitte herein.«
Frau Rupp ging mit hartem Schritt voran; sie trug wie
gestern die mittelbraunen Halbschuhe, die auf dem Laminat ein laut klackendes
Geräusch verursachten. Paula folgte ihr auf dem Fuß, setzte sich unaufgefordert
auf das geblümte Sofa und beobachtete mit der Andeutung eines Lächelns
Heinrich, der noch im Stehen die Telefon-Brokat-Haube mit dem floralen Muster
eingehend begutachtete.
»Der ist praktisch, gell?«, sagte er zu Frau Rupp,
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