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Mord in Mesopotamien

Mord in Mesopotamien

Titel: Mord in Mesopotamien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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die ganze Zeit nur: Woher weiß er das?, obwohl ich natürlich zu höflich war, das zu äußern. Es war eine große Enttäuschung für mich.
    Die ganze Ausgrabung schien mir nur aus Lehm zu bestehen, weder Marmor noch Gold, noch sonst etwas Hübsches gab es zu sehen… Das Haus meiner Tante in Cricklewood würde eine wesentlich schönere Ruine abgeben. Und diese alten Assyrier, oder was sie waren, nannten sich «Könige»! Nachdem Mr Carey mir seinen «Palast» vorgeführt hatte, übergab er mich Pater Lavigny, der mir den Rest des Hügels zeigte. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihm, weil er ein Mönch war und ein Ausländer und eine so tiefe Stimme hatte, aber er war sehr freundlich, obwohl ein wenig vage in seinen Erklärungen. Manchmal hatte ich den Eindruck, die feinen Ausgrabungen seien für ihn ebenso unwirklich wie für mich.
    Mrs Leidner erklärte mir das später. Sie sagte, dass Pater Lavigny nur an «geschriebenen Dokumenten», wie sie sich ausdrückte, interessiert sei. Diese Menschen hatten alles auf Ton aufgeschrieben; es waren merkwürdige, heidnisch aussehende Zeichen, aber ganz deutlich. Es gab sogar Schultafeln… die Lektion des Lehrers auf der einen, die entsprechenden Arbeiten der Schüler auf der anderen Seite. Ich muss gestehen, dass mich das wirklich interessierte… es war irgendwie so menschlich.
    Pater Lavigny ging mit mir durch das ganze Ausgrabungsgelände und zeigte mir Tempel, Paläste und Privathäuser und einen Platz, den er als einen frühen altbabylonischen Kirchhof bezeichnete. Er sprach in einer merkwürdig sprunghaften Art, eben noch von einer Sache, dann schon wieder von einer anderen.
    Nach einer Weile sagte er: «Es ist merkwürdig, dass Sie hergekommen sind. Ist denn Mrs Leidner ernsthaft krank?»
    «Nicht direkt krank», antwortete ich vorsichtig.
    «Sie ist sonderbar», sagte er, «eine gefährliche Frau, glaube ich.»
    «Was meinen Sie damit?», fragte ich. «Gefährlich? Wieso gefährlich?»
    Nachdenklich den Kopf schüttelnd, sagte er: «Ich glaube, sie ist grausam… ja, ich glaube, sie kann grausam sein.»
    «Entschuldigen Sie bitte, aber das ist doch Unsinn», entgegnete ich.
    Wieder schüttelte er den Kopf. «Sie kennen die Frauen nicht, wie ich sie kenne.»
    Das war ein merkwürdiger Ausspruch für einen Mönch, fand ich, aber wahrscheinlich hat er im Beichtstuhl viel gehört. Doch dann überlegte ich, ob Mönche auch Beichten hören oder ob das nur Pfarrer tun. Ich nahm jedenfalls an, dass er ein Mönch war, wegen seiner langen, wollenen Kutte und wegen des Rosenkranzes und so weiter.
    «Jawohl, sie kann grausam sein», wiederholte er nachdenklich. «Ich bin ganz sicher. Und doch, obwohl sie kalt ist wie Stein, wie Marmor, hat sie Angst. Wovor fürchtet sie sich?»
    Das möchten wir alle gern wissen, dachte ich. Vielleicht wusste es ihr Mann, aber sonst bestimmt kein Mensch.
    Plötzlich warf er mir einen scharfen Blick aus seinen dunklen Augen zu. «Sind die Zustände hier nicht unheimlich? Oder finden Sie alles ganz normal?»
    «Nicht ganz», gab ich zu. «Man lebt hier unter den gegebenen Umständen zwar verhältnismäßig bequem, aber man hat kein gutes Gefühl.»
    «Ich habe ein sehr ungutes Gefühl», sagte er, «mir kommt es nicht geheuer vor, mir ist, als ob etwas Drohendes in der Luft hinge. Auch Dr. Leidner ist verändert, irgend etwas beunruhigt ihn.»
    «Die Gesundheit seiner Frau?»
    «Vielleicht. Aber es ist noch etwas anderes. Es ist irgendetwas… wie soll ich es ausdrücken?… Unheimliches.»
    Das stimmte: Es war unheimlich.
    Wir sprachen nicht weiter, denn Dr. Leidner trat zu uns. Er zeigte mir das Grab eines Kindes, das gerade entdeckt worden war. Es hatte etwas Rührendes an sich – die kleinen Gebeine, ein paar Töpfe und einige Kügelchen, die eine Perlenkette gewesen waren.
    Über die Arbeiter musste ich dann lachen. Es waren ausgesprochene Vogelscheuchen, völlig zerlumpt; sie trugen lange Röcke, und ums Gesicht hatten sie ein Tuch gewickelt, als ob sie Zahnschmerzen hätten. Ab und zu, während sie Erde in Körben wegschleppten, sangen sie – eine seltsame, monotone Melodie, die sie wieder und wieder plärrten. Ich bemerkte, dass die meisten entzündete, tränende Augen hatten, einige schienen halb blind zu sein, und ich dachte gerade, was für jämmerliche Kerle das seien, als Dr. Leidner ausrief: «Sind das nicht fabelhafte Burschen?» Wie merkwürdig ist doch die Welt! Wie völlig verschieden können zwei Menschen ein und dieselbe

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