Mord in Mesopotamien
komme aber gern mit», sagte ich.
«Nein, bitte nicht.» Es klang sehr entschieden. «Ich muss ab und zu allein sein. Ich brauche das.»
Natürlich insistierte ich nicht, aber ich fand es merkwürdig, dass Mrs Leidner trotz ihrer nervösen Angstzustände allein, ohne Schutz, spazieren gehen wollte.
Als ich gegen halb vier – ich hatte mich ein wenig hingelegt – in den Hof kam, war nur ein Araberjunge dort, der in einem großen Kupferkessel Tongeräte wusch, und Mr Emmott, der sie sortierte. Gerade kam Mrs Leidner durch den Torbogen. Sie sah frischer aus denn je, ihre Augen glänzten, und sie blickte zufrieden, fast vergnügt drein. Dr. Leidner kam aus dem Laboratorium und zeigte ihr eine große Schale mit einem Stierhorn.
«Wir haben Glück gehabt», erklärte er, «dass wir dieses Jahr gleich zu Beginn das Grab gefunden haben. Der einzige, der unter Umständen nicht auf seine Rechnung kommt, ist Pater Lavigny, denn wir haben bisher fast keine Keilschrifttafeln gefunden.»
«Und mit den wenigen scheint er nicht viel anzufangen», entgegnete Mrs Leidner trocken. «Er mag ein ausgezeichneter Schriftenkenner sein, aber er ist ausgesprochen faul. Jeden Tag schläft er den ganzen Nachmittag.»
«Uns fehlt Byrd», sagte Dr. Leidner. «Der Pater scheint kein großer Wissenschaftler zu sein, obwohl ich es nicht kompetent beurteilen kann. Aber ein oder zwei seiner Übersetzungen überraschten mich, um nicht mehr zu sagen. Zum Beispiel kann ich kaum glauben, dass er letzthin diese Tafel richtig entziffert hat, und doch müsste er es können!»
Nach dem Tee fragte mich Mrs Leidner, ob ich mit ihr zum Fluss gehen wolle. Sie fürchtete anscheinend, dass ich gekränkt sein könnte, weil sie mich nach Tisch nicht mitgenommen hatte, und da ich ihr zeigen wollte, dass ich nicht überempfindlich bin, erklärte ich mich sofort bereit.
Es war ein herrlicher Abend. Wir spazierten auf einem Pfad zwischen Gerstenfeldern und dann unter blühenden Obstbäumen und kamen schließlich zum Tigris. Links von uns war der Hügel mit den Arbeitern, die ihre monotonen Lieder sangen, zu unserer Rechten klapperte ein großes Wasserrad und vollführte einen Höllenlärm. Ich gewöhnte mich aber bald daran, ja, allmählich gefiel es mir ganz gut, und ich fand, es wirke sogar beruhigend. Hinter dem Wasserrad lag das Dorf, in dem die meisten Arbeiter wohnten.
«Es ist schön hier, nicht wahr?», fragte Mrs Leidner.
«Es ist so friedlich. Aber es kommt mir merkwürdig vor, so weit weg von allem zu sein.»
«Weit weg von allem», wiederholte Mrs Leidner. «Ja, wenigstens hier sollte man meinen, sicher zu sein.» Es schien, als spreche sie zu sich selbst, und vermutlich war ihr gar nicht klar, dass ihre Worte mir etwas enthüllt hatten.
Langsam machten wir uns auf den Rückweg. Plötzlich, kurz vor dem Haus, packte sie meinen Arm so heftig, dass ich fast geschrien hätte. «Wer ist das, Schwester? Was tut er?»
Ein Mann in europäischer Kleidung stand auf den Zehenspitzen am Haus und versuchte, in Mrs Leidners Fenster zu schauen. Als er sich beobachtet fühlte, ging er weiter, uns entgegen. Mrs Leidners Griff wurde fester. «Schwester», flüsterte sie. «Schwester…»
«Es ist nichts, meine Liebe, es ist nichts», sagte ich beruhigend.
Der Mann kam an uns vorbei. Es war ein Iraker, und als sie ihn aus der Nähe sah, beruhigte sie sich.
«Er ist wirklich ein Iraker», sagte sie.
Als wir zum Haus kamen, betrachtete ich im Vorübergehen die Fenster. Sie waren nicht nur vergittert sondern auch zu hoch, als dass man vom Boden aus, der hier tiefer war als im Hof, etwas hätte sehen können.
«Es war bestimmt nur Neugierde», sagte ich.
Mrs Leidner nickte. «Sicher. Aber einen Augenblick dachte ich…» Sie brach ab.
Was dachte sie? Das hätte ich gerne gewusst. Was dachte sie? Aber ich wusste nun etwas: Mrs Leidner fürchtete sich vor einem Menschen aus Fleisch und Blut.
8
I ch weiß nicht genau, was ich über meine erste Woche in Tell Yarimjah berichten soll.
Rückblickend erkenne ich eine Menge Zeichen und Andeutungen, für die ich damals blind war. Ich muss aber die Ereignisse von meinem damaligen Gesichtspunkt aus niederschreiben.
Zunächst stand ich vor einem Rätsel; mir war unbehaglich zumute, und mir wurde immer mehr bewusst, dass etwas nicht stimmte. Denn eines war sicher: Die in diesem Kreise herrschende Befangenheit und Spannung beruhte nicht auf Einbildung, es gab triftige Gründe dafür. Sogar Bill Coleman, dieser
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