Mord in Mesopotamien
antwortete aber prompt: «Es ist möglich, dass die Briefe nur ein bösartiger übler Scherz sind.»
«Das wäre möglich. Aber was sollen wir tun? Das treibt sie doch zum Wahnsinn. Ich weiß nicht, was man davon halten soll.»
Auch ich wusste es nicht. Mir kam der Gedanke, dass vielleicht eine Frau dahinter stecke, die Briefe hatten etwas Weibliches an sich, und ich dachte an Mrs Mercado. Angenommen, sie hatte durch einen Zufall die Wahrheit über Mrs Leidners erste Ehe erfahren und befriedigte nun ihren Hass, indem sie die arme Frau terrorisierte.
Ich wollte Dr. Leidner nichts davon sagen, weil man nie weiß, wie so etwas aufgefasst wird. Also sagte ich herzlich: «Wir müssen das Beste hoffen. Ich glaube, es hat Ihre Frau etwas erleichtert, dass sie mit jemandem darüber gesprochen hat. Das hilft immer.»
«Ich bin sehr froh, dass sie es Ihnen erzählt hat», wiederholte er. «Das ist ein gutes Zeichen, es beweist, dass sie Sie schätzt und Ihnen vertraut. Ich war am Ende meiner Weisheit angelangt.»
Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, warum er nicht der Polizei einen diskreten Wink gebe; aber bald darauf war ich froh, dass ich es nicht getan hatte. Es ereignete sich nämlich Folgendes: Am nächsten Tag sollte Mr Coleman nach Hassanieh fahren, um bei der Bank die Arbeiterlöhne zu holen. Er nahm unsere Post mit für das nächste Flugzeug. Wir pflegten die Briefe in einen Holzkasten auf der Fensterbank im Esszimmer zu deponieren, und er ordnete sie dann. Plötzlich rief er: «Unsere entzückende Louise hat wirklich einen Stich. Sie adressiert einen Brief an irgendjemanden nach 42nd Street, Paris, Frankreich. Das kann doch nicht stimmen? Würden Sie so gut sein und sie fragen? Sie ist gerade zu Bett gegangen.»
Ich lief zu Mrs Leidner, und sie verbesserte die Adresse. Dabei sah ich zum ersten Mal ihre Handschrift, und ich überlegte, wo ich sie schon gesehen haben könnte, denn sie kam mir so bekannt vor.
Mitten in der Nacht fiel es mir auf einmal ein.
Abgesehen davon, dass sie größer und unordentlicher war, glich sie genau der des anonymen Briefschreibers. Ich überlegte: Hatte Mrs Leidner die Briefe selbst geschrieben? Vermutete Dr. Leidner die Wahrheit?
10
A m Freitag hatte mir Mrs Leidner ihre Geschichte erzählt.
Am Samstagmorgen hing eine merkwürdige Spannung in der Luft. Mrs Leidner war mir gegenüber sichtlich verlegen und schien bewusst ein Alleinsein mit mir zu vermeiden. Das überraschte mich nicht. So etwas passiert mir wieder und wieder. Es kommt oft vor, dass Patientinnen in einem Anfall von Vertraulichkeit ihren Krankenschwestern alles Mögliche erzählen, und später ist es ihnen unangenehm. Das ist nur menschlich. Ich bemühte mich, sie in keiner Weise an das zu erinnern, was sie mir gesagt hatte, und unterhielt mich so natürlich und sachlich wie möglich mit ihr.
Mr Coleman war für den ganzen Tag nach Hassanieh gefahren und wurde nicht vor dem Abend zurückerwartet; ich nahm an, dass er mit Sheila Reilly zu Mittag essen würde.
Der Araberjunge Abdullah, dessen Aufgabe es war, die Tongeräte zu waschen, war wie üblich singend im Hof beschäftigt. Dr. Leidner und Mr Emmott arbeiteten an ihren Tonscherben, und Mr Carey begab sich zur Ausgrabungsstätte.
Mrs Leidner wollte sich ein wenig ausruhen. Ich half ihr wie gewöhnlich und ging dann mit einem Buch in mein Zimmer; es war Viertel vor eins, und die Stunden vergingen mir wie im Flug. Ich las «Tod im Säuglingsheim», einen wirklich spannenden Kriminalroman, obwohl der Autor meiner Ansicht nach keine Ahnung hat, wie es in einem Säuglingsheim wirklich zugeht. Jedenfalls kenne ich keines, das so ist, wie er es schildert. Ich hatte gute Lust, ihm zu schreiben und ihn über einige Punkte aufzuklären.
Als ich schließlich die Geschichte zu Ende gelesen hatte (es war das rothaarige Zimmermädchen, und ich hatte es bis zum Schluss nicht in Verdacht gehabt!) und auf die Uhr sah, war es bereits zwanzig vor drei.
Ich stand auf, glättete die Falten meiner Tracht und ging in den Hof. Abdullah schrubbte noch immer und sang seine traurigen Lieder, und David Emmott sortierte die gewaschenen Töpfe. Ich wollte mich gerade zu ihnen gesellen, als Dr. Leidner die Treppe vom Dach herunterkam. «Kein schlechter Nachmittag», sagte er freundlich. «Ich habe ordentlich aufgeräumt. Louise wird sich freuen. Sie hat sich erst neulich darüber beklagt, dass oben kein Platz mehr zum Spazierengehen ist. Ich werde ihr die gute Nachricht
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