Mord in Tarsis
Augen sind hellwach. Er ist voll bei Bewußtsein.«
»Ich verstehe«, sagte Stunbog. »Es gab kein Zeichen seiner Krankheit, das diesem Anfall vorausging?«
»Ich habe heute abend ein leichtes Beben seiner einen Hand bemerkt«, sagte Nistur. »Und etwas später…« Er zögerte.
»Später?« drängte Stunbog.
»Nun, es mag nicht von Bedeutung sein, aber wir hörten ein seltsames Geräusch, wie ein Donnern, ein komisches Geräusch bei solchem Wetter. Ich sah, wie er zum Himmel blickte, und er hatte einen Ausdruck… beinahe entsetzt. Gewiß kann ein so hartgesottener Söldner keine Angst vor Gewittern haben. Vielleicht ist er irgendwie verzaubert worden, mit einer Schreckensvision.«
»Ein Geräusch wie ein Donnern? Aber du selbst hast nichts gesehen?«
»Einen Augenblick dachte ich…« Er hielt betreten inne. »Hm, nein, ich habe wirklich nichts gesehen.«
»Ich verstehe«, sagte der alte Mann nachdenklich.
Die Barbarenfrau kam in die Kabine. »Er ist jetzt fertig für dich«, sagte sie mit einem so starken Akzent in der Stimme, daß Nistur sie kaum verstehen konnte.
»Ich muß euch für eine Weile verlassen«, sagte der Heiler. »Laßt euch den Glühwein schmecken. Myrsa, hol etwas zu essen. In einer solchen Nacht brauchen Leute eine Stärkung.«
Der Heiler verließ sie, und die Barbarenfrau ging in einen anderen Raum, der vermutlich die Küche oder Kombüse war, je nachdem, ob die Begriffe der Seefahrt noch galten. Während Muschelring es sich bequem machte und sich auf einem gepolsterten Platz am Fenster ausstreckte, untersuchte Nistur seine neue Umgebung mit lebhaftem Interesse. Seine weiten Reisen hatten in ihm eine große Liebe für Neuheiten wachsen lassen, und er hatte sich selten in einer so außergewöhnlichen Umgebung befunden.
Die Luft in der Kabine war vom Duft der Kräuter erfüllt, die büschelweise zum Trocknen über dem kleinen Kamin hingen, und ähnlich duftende Beutel baumelten von den Balken über ihren Köpfen. Bücher mit magischem Wissen standen in den Regalen, teilten sich den Raum mit Instrumenten aus Metall, Kristall und Glas, die alle nach geheimen Plänen geschaffen waren. Es gab Ständer mit gefüllten Gläsern, die mit verschiedenen Schriften und Hieroglyphen gekennzeichnet waren. Die Knochen vieler seltsamer Tiere waren überall verstreut; manche von ihnen waren aufgestellt und bildeten komplette Skelette in lebensechten Posen. Mörser beinhalteten zerstoßene Mineralien und pulverisierte Kräuter.
»Ein bescheidener Heiler, so, so«, murmelte Nistur. Auf einem Schott entdeckte er ein rundes Sichtglas, in dem er sich selbst betrachten konnte. Er hob seinen sauber gestutzten Bart an und reckte den Hals, um in diesem unbequemen Winkel das freigelegte Fleisch sehen zu können. Genau unter seinem Kiefer erkannte er, daß die Haut wie mit einem frischen Brandzeichen markiert war, obwohl er keinen Schmerz fühlte und auch die anfängliche Taubheit nachließ. Das daumenabdruckgroße Muster aus hellen, miteinander verknüpften roten Streifen symbolisierte deutlich den Thanalusknoten. Seufzend wandte er den Blick von seinem Spiegelbild ab. Wie lange würde er durch diesen Zauber gebunden sein?
Die Barbarenfrau kehrte zurück. »Hier«, sagte sie. »Damit ihr nicht verhungert.« Sie stellte Fladenbrot, Käse, Trockenfrüchte und gepökelte Fische auf den Tisch. Es war ein einfaches Mahl, aber zu dieser Jahreszeit fand man frische Nahrung nur in den Häusern der Reichen.
Muschelring bewegte ihren mageren Körper von dem Platz am Fenster zu der Bank vor dem Tisch und begann wortlos, sich den Mund vollzustopfen. Nistur setzte sich und bediente sich mit größerem Anstand, griff aber genauso herzhaft zu. Seine Lage war im Moment außerordentlich prekär, und er wußte genau, daß jemand, der in einer solchen Patsche saß, besser einen soliden Grundstock legen sollte, solange sich die Gelegenheit bot. Wer wußte schon, wann er wieder etwas zu essen bekommen würde?
»Willst du dich nicht zu uns setzen?« bot er der Barbarenfrau an.
»Keinen Hunger«, sagte sie, doch ihr Tonfall verriet, daß nicht einmal der drängendste Hunger sie dazu bewegen könnte, sich mit ihm an denselben Tisch zu setzen. Nistur war sicher, daß er die Frau in keiner Weise beleidigt hatte, doch er war in seinem ereignisreichen Leben schon oft auf unbegründete Feindseligkeit gestoßen und war durchaus in der Lage, mit der Zurückweisung so umzugehen, wie es sich für einen Poeten und Philosophen geziemte. Er
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