Mord in Tarsis
der einen und eine getrocknete Birne in der anderen Hand und schien sich nicht entscheiden zu können, was sie zuerst essen sollte.
»Nein, die Rüstung wurde für ihn geschneidert, nur für ihn allein«, versicherte Stunbog. »Sie paßt ihm so genau wie Myrsa ihre Barbarenhäute. Manchmal läßt sich ein Soldat die Rüstung eines anderen Mannes anpassen, aber sie wird niemals so perfekt sitzen. Die Drachenhaut wurde vor höchstens fünf Jahren abgezogen. Das erkenne ich an dem Zustand der Schuppen. Es paßt auch zum Stadium der Krankheit. Deshalb ist der Mann, der da unten schläft, derjenige, der den Drachen erschlagen, seine Haut abgezogen und sie zu einer Rüstung für sich verarbeitet hat.«
»Und doch ist er der Rache des Drachen nicht entkommen«, meinte Nistur. »Na, das ist doch wirklich ein Thema für ein Gedicht. Heldenlieder gehören zufällig zu meinen Spezialitäten.«
»Wirklich?« fragte Stunbog. »Ich hätte gedacht, daß du ein Mann mit… sagen wir mal, einem aggressiveren Beruf bist.«
»Tatsächlich? Bei oberflächlichem Hinsehen in deinem Heim«, Nistur zeigte umher, besonders auf die Gegenstände, die zur Magie benötigt wurden, »und beim Verfolgen deiner höchst gelehrten Abhandlung über die Natur und Art der Drachen würde ich meinen, daß du mehr bist als ein einfacher Heiler mit bescheidenen Möglichkeiten und Fähigkeiten.«
Stunbog putzte die angelaufenen Gläser seiner Brille. »Ich bin nur ein Liebhaber magischen Wissens, vielleicht sogar ein halbwegs angesehener Gelehrter. Aber ich praktiziere ausschließlich die Heilkunst.«
»Verstehe«, erwiderte Nistur. »Du mußt ein Mann von seltener Charakterstärke sein.«
»Wie kommst du denn darauf?« fragte Stunbog unschuldig.
»Nun, es ist wohlbekannt, daß nur wenige Menschen, die sich das Wissen und die Sprüche der Zauberkünste angeeignet haben, nicht in Versuchung geraten, diese in die Praxis umzusetzen. Es wird vielfach behauptet, daß Geist und Seele des Studenten durch das Studium dieser Künste von einem Zwang ergriffen werden, mit geheimen Kräften umzugehen und magische Handlungen auszuführen.«
»Auch ich habe dieses Gerücht gehört, schenke ihm jedoch wenig Glauben. Es gibt eine andere Geschichte, die ich gehört habe, die behauptet, daß niemand, der viele Jahre dem Waffentraining gewidmet hat, diese Waffen dann im Ernstfall nicht gebrauchen und nicht seinen Lebensunterhalt mit ihnen verdienen könnte. Aber wir wissen, daß das eine Fabel ist, nicht wahr?«
»Sehr richtig, gelehrter Heiler«, stimmte Nistur zu.
Während dieses Wortwechsels rollten Muschelrings Augen zwischen den beiden hin und her, als wäre sie Zeugin eines Duells. Sie hatte von Kindesbeinen an durch ihre schnelle Auffassungsgabe überlebt, und sie wußte, wann zwei Männer Maß nahmen. Jeder versuchte etwas über den anderen herauszufinden, ohne zuviel von sich selbst preiszugeben.
Ihr spannender Wortwechsel wurde von einem lauten Klopfen unterbrochen. »Was ist jetzt?« stöhnte Stunbog.
»Schlaflose Nächte gehören zu den bekannten Risiken des Heilerberufs«, bedauerte ihn Nistur.
Die Barbarenfrau erschien, gefolgt von einer viel kleineren Gestalt. »Wühler ist gekommen«, erklärte sie lakonisch. Sie trat beiseite, um einem Zwerg Platz zu machen, wie Nistur ihn noch nie gesehen hatte. Seine Haare und sein Rauschebart waren schneeweiß, obwohl er nach Zwergenmaßstäben nicht besonders alt sein konnte. Seine Haut war rosarot wie die einer Jungfrau, die gerade tief errötet, außer an den Stellen, wo dunkelblaue Venen auf seinem Handrücken hervortraten. Er blinzelte, als ob selbst das Licht der Lampen und des Feuers für seine Augen zu hell wäre.
»Was ist denn, mein Freund?« fragte Stunbog.
»Es ist eine neue Kolik unter den Kleinen ausgebrochen, Stunbog«, sagte der Zwerg mit einer Stimme wie knirschende Mühlsteine. »Wir glauben, einige könnten sterben. Kommst du?«
Stunbog seufzte. »Wenn ihr es für so ernst haltet, sollte ich besser mitkommen. Myrsa, holst du bitte meine Tasche?«
Die Frau verschwand und kam Augenblicke später mit einem großen Beutel aus Seehundfell zurück. »Schlechte Nacht zum Rausgehen«, erklärte sie. »Und gefährlich.«
»Ich warte draußen auf dich, Stunbog«, sagte der Zwerg. Er schien es eilig zu haben, dem Licht zu entkommen.
»Du kannst mich begleiten, wenn du dir Sorgen machst«, sagte Stunbog leicht erheitert.
»Und die hier allein lassen?« Sie wies mit dem Daumen auf Nistur und
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