Mord in Tarsis
fragte Nistur, der bereits ahnte, wie die Antwort ausfallen würde.
»Weil es«, sagte Karst, »wenn blutige Anfänger gegeneinander in den Krieg ziehen, auf beiden Seiten ein furchtbares Blutbad gibt.«
»Wer hat an diesem Tor das Kommando?« fragte Eisenholz.
»Ich«, sagte Karst.
»Ich meine, welcher Adlige von Tarsis? Bestimmt hat jeder von ihnen einen Mauersektor, wo er in seiner Uniform herumstolzieren und sich als Soldat ausgeben kann.«
»Ach so. Das hier ist das Haupttor der Stadt, und der Regimentschef ist der Fürst persönlich.«
»Das ist ein Ehrentitel«, erklärte Eisenholz Nistur. »In den meisten Armeen hat jedes Regiment einen Regimentschef, gewöhnlich einen Fürsten, der die Truppen einmal oder zweimal im Jahr überprüft und sich ansonsten nie blicken läßt.«
»Das Nordtor ist das zweitwichtigste, und es steht angeblich unter dem Befehl von Lord Rukh, dem wichtigsten Mann unter den Geheimräten. Das Südtor untersteht Geheimrat Blasim, einem nutzlosen, fetten Kerl. Dann ist da noch ein altes Hafentor. Es ist jetzt zugemauert, aber es untersteht einem Geheimrat namens Mede. Er ist Bankier, was euch verraten sollte, wieviel er taugt. Geheimrat Melkar ist der einzige, der einige soldatische Fähigkeiten hat. Er kommandiert die Festung an der Südwestecke der Mauer. Dann ist da noch Geheimrat Alban, aber der ist sogar dazu zu alt, auch nur den Soldaten zu spielen.«
Mit den wenig beruhigenden Worten von Hauptmann Karst im Ohr begannen Nistur und Eisenholz an der Stadtmauer entlang nach Süden zu laufen. Die Maschinen waren zum Reparieren zurückgezogen, und die Mauer war gut mit Geschossen wie Steinen, Wurfspießen und Bolzen bestückt, aber hin und wieder kamen die beiden unterwegs an Abgründe mitten im Weg, über die Holzbrücken führten, größere Mauerteile, die nach außen hin eingestürzt waren, und Stellen, wo dichtes Buschwerk bis an den Fuß der Mauer herangewachsen war, wo Feinde Deckung finden konnten.
»Der Hauptmann hat wenig Zutrauen zu den großen Adligen von Tarsis«, stellte Nistur fest, »aber er scheint zu glauben, daß die Verteidigungsanlagen ausreichend sind, um den Nomadenpöbel fernzuhalten.«
»Was soweit auch stimmt«, sagte Eisenholz, »aber vieles bleibt merkwürdig.«
»Was meinst du damit?« Die Verteidiger, an denen sie auf der Mauer vorbeikamen, waren größtenteils Geschäftsleute, Lehrlinge, Arbeiter und der eine oder andere Priester, aber es gab nur wenige hartgesottene Söldner, deren Disziplin und Kampfkunst entscheidend sein würden, wenn die Schlacht erst einmal losging.
»Ich meine, warum trifft Kyaga keine Vorbereitungen zum Erstürmen der Mauern? Ist er wirklich ein Träumer? Das glaube ich nicht. Alles, was ich über ihn gehört habe, spricht dafür, daß er schlau und vorausschauend ist. Ein stümperhafter Esel hätte all diese verfeindeten Stämme nicht einen können, ganz gleich, wie viele heilige Männer sein Kommen prophezeien.«
»Dann beabsichtigt er vielleicht überhaupt keinen Kampf. Vielleicht ist alles nur ein Einschüchterungsversuch.«
»Oder vielleicht hat er andere Pläne, wie er die Stadt einnehmen will«, sagte Eisenholz.
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel einen verräterischen Ratsherrn, der bereits zugesichert hat, ihm ein Tor zu öffnen, so daß er die Mauern gar nicht erstürmen muß.«
»Oh. Das sind ja erschütternde Aussichten.«
Als die Sonne den Horizont erreichte, hatten sie einen kompletten Rundgang auf den Mauern hinter sich und erreichten wieder das Osttor. Sie stiegen zur Straße hinunter und machten sich auf den Rückweg zum Hafen.
»Was denkst du?« fragte Nistur.
»Ich denke, wir sollten besser diesen Mörder finden«, antwortete Eisenholz.
»Dann verrate mir deine Gedanken.«
»Von diesem Ort zu entkommen ist jetzt kaum noch möglich. Ich habe die Nomadenpatrouillen beobachtet, während wir die Mauern abgegangen sind, und ich habe selten gründlichere gesehen. Wir wären nur wandelnde Zielscheiben für sie. Sie haben diese Stadt völlig abgeriegelt.«
»Aber du hältst die Forderung nach Auslieferung des Mörders für eine Finte, nicht wahr?«
»Das stimmt, aber selbst ein Barbarenhäuptling wie Kyaga muß einen gewissen Schein wahren. Wenn er sagt, er greift nicht an, wenn ihm die Mörder rechtzeitig übergeben werden, dann muß er sich wenigstens so lange zurückhalten, bis er eine Ausrede gefunden hat. Er würde gegenüber seinen Unterhäuptlingen sein Gesicht verlieren, wenn er sein Wort
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