Mord in Tarsis
rechteckigen Holzschilde, die zwischen den Zinnen angebracht worden waren und sich wie Dachziegel nach außen wölbten.
»Verstehe«, sagte Nistur.
»Und«, fuhr Karst fort, der sich langsam für sein Thema erwärmte, »wenn man eine Schlacht auf freiem Feld austrägt, braucht man ausgebildete Soldaten, die Disziplin haben und auf Befehle reagieren. Sie müssen stark, tapfer und ausdauernd sein. Man kann nicht einfach einem jungen Bauerntölpel ein Schwert in die Hand drücken und erwarten, daß er anständigen Gebrauch davon macht. Nur ein starker Mann kann einen Langbogen spannen, und er braucht jahrelange Übung, um ein entferntes Ziel genau zu treffen. Aber wenn man eine Stadt wie diese verteidigt, können selbst die Stadtbewohner behilflich sein. Jeder Schwächling kann eine Armbrust aufziehen, und wenn man in einen Haufen Feinde schießt, wird der Bolzen wahrscheinlich ein Ziel finden.«
Karst bückte sich und hob einen Stein von einem Stapel unterhalb der nächsten Zinne auf. Jeder Mauerzacken war so ausgestattet. Er warf den Stein Nistur zu, der ihn geschickt auffing. Es war ein glatter, runder Stein, etwas mehr als faustgroß, wie man ihn benutzte, um die Straßen der Stadt zu pflastern.
»Man brauchte einen starken Arm und gute Augen, um mit einem solchen Stein einen Krieger zu fällen, nicht wahr?«
Nistur warf den Stein hoch und fing ihn mit einer Hand wieder auf. »Ich möchte es nicht unbedingt versuchen.«
»Aber von einer Mauer wie der, die Tarsis umgibt, an den meisten Stellen fünfzehn bis achtzehn Meter hoch, kann ein tattriger alter Kaufmann einen über die Brustwehr schmeißen, und bis der Stein den Boden erreicht, wird er genug Wucht haben, um einen Mann zu töten.« Karst lehnte sich über die Brustwehr und sah hinunter. »Werft mal einen Blick da runter.«
Nistur tat es ihm nach und spähte an der Mauer entlang nach unten. Der obere Teil war praktisch senkrecht, aber weiter unten verbreiterte sie sich plötzlich nach außen.
»Dieser Hang verleiht der Mauer unten eine zusätzliche Stärke«, erläuterte Karst. »Er erschwert es, einen Rammbock oder eine Tunnelmaschine gegen sie einzusetzen. Aber er dient auch als praktische Oberfläche zum Verlängern. Man braucht nur einen von diesen Steinen fallen zu lassen – « Er ließ einen fallen, und der Stein stürzte senkrecht hinunter und gewann schnell an Geschwindigkeit. Dann traf er auf die abfallende Oberfläche und sprang nahezu horizontal nach außen. »Seht Ihr? Wählt den richtigen Punkt, dann zerschmettert der Stein einem Mann das Gesicht, wenn sein Helm kein starkes Visier hat, und von diesen Nomaden haben nur wenige eine nennenswerte Rüstung.«
»Du verstehst etwas von deinem Beruf, Hauptmann«, lobte Nistur. »Was ist mit Sturmleitern? Ich sehe, daß die Mauern an dieser Stelle hoch sind, aber es gibt viele niedrige, eingestürzte Stellen, wo der Feind versuchen könnte, sie anzulegen.«
»Keiner hat gesehen, daß welche gebaut wurden. Ich bezweifle sowieso, daß die Nomaden einen Sinn für solche Arbeiten haben. Es ist ein gefährliches Wagnis, eine Mauer mit Leitern erstürmen zu wollen. Die Angreifer haben immer schreckliche Verluste, bevor sie die Oberhand gewinnen.«
»Richtig«, sagte Eisenholz. »Große Fürsten setzen gewöhnlich ihr Landvolk ein, das die Leitern trägt und den ersten Angriff unternimmt, denn sie halten solche Männer für verzichtbar und nutzlos.«
»Und genau das sind sie«, sagte Karst. »Es wäre Unsinn, erfahrene Soldaten umkommen zu lassen, bevor sie auch nur Gelegenheit zum Kämpfen haben. Man schickt die Leibeigenen mit den Leitern vor, während die Krieger die Belagerungstürme bemannen. In den Türmen sind sie sicher, bis die Mauer erobert ist. Und diese Nomaden bauen weder Türme, noch treiben sie die Bauern aus der Umgebung herbei.«
»Also«, fragte Nistur, »was geht dann hier eigentlich vor? Ist es ein richtiger Krieg, oder ist das alles bloß ein großes In-Pose-Setzen, bevor der Fürst von Tarsis und Kyaga Starkbogen ihren Zwist diplomatisch beilegen?«
»Dazu kann ich nichts sagen«, gab Karst zu. »Ich habe noch nie für einen Ort wie Tarsis gearbeitet, und es hat mein Leben lang keinen Oberhäuptling der Nomaden gegeben.«
»Könnte das bedeuten«, wagte Nistur sich vor, »daß sie den Krieg wollen, aber keine Seite weiß, wie man einen anständigen Krieg führt?«
»Das sollten wir lieber nicht hoffen«, sagte Karst, der jetzt so grimmig klang wie Eisenholz.
»Wieso?«
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