Mord in Tarsis
»Nein. Ich bin sicher, daß ich mit keinem Fürsten der Stadt etwas zu tun hatte.«
»Aha. Aristokraten sind bestenfalls ein launischer, unberechenbarer Haufen. Vielleicht hat er mal verkleidet eine einfache Kneipe besucht, und du hast ihn beim Würfeln geschlagen. Oder er ist mit seiner Frau spazierengegangen, und sie hat dir einen Blick zugeworfen, den er vielleicht zu lang fand.«
»Könnte sein«, gab Eisenholz zu. »Oder er hat mich für jemand anderen gehalten. Wahrscheinlich werden wir das alles schon sehr bald erfahren. Geben wir einfach unser Bestes, damit wir dieses Abenteuer überleben.«
An der Nordostecke des Palastgebäudes erreichten sie eine breite Hauptstraße, die ostwärts auf eines der drei Haupttore der Stadt zuführte. Sie lenkten ihre Schritte auf das Tor zu. Beim Gehen fiel Nistur der krasse Gegensatz zwischen den beiden Seiten der Straße auf. Im Süden befand sich ein relativ wohlhabendes Viertel mit imposanten Häusern und teuren Geschäften. Im Norden lag die Altstadt oder Oberstadt, die – wie Muschelring erklärt hatte – offiziell als unbewohnt galt. Die meisten größeren Gebäude dort waren bei der Umwälzung eingestürzt, und die wenigen, die noch drei Stockwerke umfaßten, waren nur noch Hüllen, aus deren klaffenden Fenstern Tageslicht drang, da alle Dächer schon längst zerfallen waren. Es war ersichtlich, daß die Umwälzung hier wie ein ganz gewöhnliches Erdbeben zugeschlagen hatte, das heißt, ihr waren verheerende Brände gefolgt. Alle stehenden Gebäude wiesen Feuerschäden auf, und Holzhäuser gab es überhaupt nicht mehr.
»Wenn man nach der Höhe der Ruinen geht«, stellte Nistur fest, »muß das der bei weitem reichste Teil der Stadt gewesen sein. Es verwundert wenig, daß Tarsis sich niemals ganz davon erholt hat.«
»Sie haben einfach keinen Pioniergeist«, sagte Eisenholz ohne großes Mitleid. »Ich habe Städte gesehen, die durch die Umwälzung dem Erdboden gleichgemacht wurden, und man hat sie so wieder aufgebaut, daß man meinen könnte, sie wären nie beschädigt worden. Die Leute hier haben keinen Mumm in den Knochen.«
»Ich kann nicht behaupten, daß ich sie besonders mag, aber wir müssen gerecht sein. Die Stadt war ganz auf ihren Hafen ausgerichtet, und den hat die Umwälzung zerstört.«
»Warum müssen wir gerecht sein?« fragte Eisenholz.
Sie kamen an das Osttor, ein Bauwerk, das aus zwei massiven Holztüren von jeweils drei Metern Breite und sechs Metern Höhe bestand, geschützt vom schweren eisernen Gitter einer Falltür dahinter. Für gewöhnlich wäre das Fallgitter um diese Zeit hochgekurbelt gewesen, und man hätte nur beim Blick nach oben den reißzahnähnlichen unteren Teil zu sehen bekommen, aber jetzt war es unten, solange die Krisensituation dauerte. Auf einer Seite des Haupttores lag eine kleine, schwer befestigte Tür, die den Durchgang zu Fuß gestattete, wenn das Haupttor geschlossen war. Diese Nebentür war jetzt ebenfalls verschlossen und mit mehreren dicken Balken verrammelt.
An beiden Seiten des Tores erhoben sich hohe Türme über die eigentliche Stadtmauer. Ihre Spitzen waren von Zinnen gekrönt und mit schweren Schußwaffen ausgestattet. Armbrüste, die drei- oder viermal so groß waren wie ihre gewöhnlichen Ausgaben, waren auf Drehstützen montiert. Sie waren in der Lage, Stahlbolzen oder Steine bis zu Melonengröße abzuschießen. Eine Reihe frisch angeheuerter Söldner lehnte, auf Speere, Breitschwerter, Hellebarden und andere Arten von Stangenwaffen gestützt, unterhalb der zwei Türme an den Mauern und musterte Nistur und Eisenholz, als das seltsame Paar näher kam.
»Wer ist für dieses Tor verantwortlich?« fragte Eisenholz.
»Wer will das wissen?« erwiderte ein Soldat, der sich nicht auf eine Stangenwaffe, sondern auf einen Langbogen stützte. Nistur und Eisenholz hielten ihr Siegel hoch, und die Insignien übten ihren gewohnten Zauber aus.
»Hauptmann Karst, zu Diensten«, sagte der graubärtige Mann, der aus einem der Türme angelaufen kam. Dann warf er einen Blick auf den Söldner in der Drachenrüstung. »Eisenholz? Du wurdest von jedem Werber in der Stadt abgewiesen! Wie kommst du zu einer bequemen Stellung beim Fürsten von Tarsis?«
»Manche von uns sind für Höheres bestimmt, Hauptmann«, verkündete Nistur großspurig. »Wir müssen die Mauern inspizieren und uns einen Überblick über das Nomadenlager verschaffen.«
Die schweren Schultern des Hauptmanns hoben und senkten sich, so daß sein
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