Mord in Thingvellir
mich. Drohend.
»Mach keinen Blödsinn«, sage ich.
»In dieser Spritze steckt dein Todesurteil«, sagt er.
»Mach kein Theater.«
Er ist unsicher auf den Beinen. Aber versucht, mich mit seinen blutunterlaufenen Augen in Schach zu halten. Und richtet immer noch die Spritze auf mich.
»Wenn du Fjóla nicht sofort wieder herbringst, kriegst du Aids und Hepatitis.«
Ich angele vorsichtig nach dem zerbrochenen Tischbein, das auf dem Fußboden liegt. Sehe aus den Augenwinkeln, dass eine verrostete Schraube aus dem anderen Ende herausragt. Angriff ist immer die beste Verteidigung.
Ich mache schnell einen Schritt auf die Schlafbank zu und schlage dem Kerl die Spritze aus der Hand.
Er hält sich die Hand und heult vor Schmerzen. Ich ziehe das Tischbein wieder zurück.
An der verrosteten Schraube klebt Blut.
»Setz dich!«, zische ich.
Der Junkie lässt sich rücklings auf die Schlafbank fallen. Glotzt verwundert auf seine blutige Handfläche. Und jault.
Ich lasse eine Minute verstreichen.
Zwei.
Ich drehe mich auf dem Absatz um, laufe eine Treppenstufe nach der anderen hinunter und hinaus aus dem vergammelten Haus, das nur darauf wartet, noch einem Glaspalast des Kapitalismus zu weichen. Werfe das blutige Tischbein auf den Schotterplatz, bevor ich mich ins Auto quetsche.
Júlíus sitzt auf dem Rücksitz. Mit Fjóla im Arm.
»Fahren wir«, sage ich.
Andrés lässt den Motor an und braust schnell zwischen den geparkten Autos hindurch auf die Straße. Die Bremsen quietschen, als er knapp die enge Kurve auf die Snorrabraut nimmt. Das Auto saust über Gelb auf die Miklabraut.
»Pass auf«, rufe ich. »Du willst dich doch nicht von den Schwarzjacken mit diesem Gepäck auf dem Rücksitz erwischen lassen.«
Das Mädchen schwebt immer noch in der Traumwelt des Morpheus. Bewusstlos.
Andrés hält auf dem Parkplatz an, auf dem ich meinen deutschen Zweisitzer geparkt habe.
»Berichte mir, wie die Sache ausgeht«, sage ich und öffne die Tür.
»Ich melde mich«, antwortet Andrés.
Er fährt rasant an. Ich blicke dem Skoda hinterher, bis ich das Auto auf der Ártúnsbrekka aus den Augen verliere. Auf dem Weg ins Nordland. Die gute Tat des Jahres ist vollbracht.
Das Schweigen der Gerechten herrscht in meiner Straße, als ich diese Nacht nach Hause komme. Alle sind schon lange schlafen gegangen. Auch die Kriminellen.
Ich fahre zu meinem roten Reihenhaus mit den weiß gestrichenen Fensterrahmen und der schwarzen Dachverkleidung.
Die Morgenzeitungen stecken schon im Briefkasten. Ich werfe sie achtlos auf den Tisch in der Diele. Ziehe mir den Regenanzug und die warmen Thermoschuhe aus. Schüttele mein langes, helles Haar, das im Regen feucht geworden ist.
Die Überschrift auf der Titelseite des Nachrichtenblattes springt mir im Spiegel entgegen:
Mord in Thingvellir
Ein Mord in der alten Steinfestung? Die von den politischen Sonntagsrednern immer der heiligste Ort des isländischen Volkes genannt wird? Wiege des Parlamentarismus in der Welt und das alles? Wenn sie auf Vorzeigebanketten der Staatsmacht angeschwipste Reden halten?
Unglaublich.
Ein solches Verbrechen müsste doch einer Tempelschändung gleichkommen.
Allerdings gab es früher mehr als genug Leichen in Thingvellir, als das noch der bevorzugte Hinrichtungsort der Machthaber war. Da flogen die Köpfe von Männern nach vielen Schlägen mit verrosteten, stumpfen Äxten, Frauen hingegen wurden im Ertränkungspfuhl ertränkt wie neugeborene Kätzchen.
Aber jetzt? Im einundzwanzigsten Jahrhundert?
Das ist ja noch nicht mal witzig.
2
Ich wälze mich unter der Bettdecke hin und her. Nackt.
Meine Gehirnzellen weigern sich zu entspannen. Der Gott des Schlafes drückt sich davor, mich zu besuchen. Ich habe auch sonst niemanden, den ich in meinem breiten Doppelbett im Arm halten könnte.
Ludmilla hält sich irgendwo in Europa auf. Erledigt Dinge für ihren Vater. Für diesen geheimnisvollen, lettischen Russen, über den ich sie lieber nicht genauer ausfragen wollte.
Sie sagt, dass sie mich im Dezember wieder besuchen will. Wie der Weihnachtsmann.
Natürlich bin ich es gewohnt, allein zu sein. Unabhängig und frei, um zu tun, was ich will und wann ich es will. Das ist mein Stil.
Niemand darf über mich bestimmen. Nie wieder.
Wirklich schlimm ist nur, dass ich meine biologische Uhr bemerkt habe. Merke, wie schnell sie tickt. Unangenehm schnell. Und nonstop.
Seit einiger Zeit ist mir ab und zu sogar der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass es
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