Mord in Thingvellir
denke, in denen ich dem Tod direkt ins Auge gesehen habe.
Gegen sechs Uhr abends lege ich meine neue, rotbraune Aktentasche auf den Schreibtisch meines Büros im Erdgeschoss des roten Reihenhauses. Noch bevor ich meine Lederjacke an die Garderobe in der Diele hänge. Dann gehe ich mit langsamen Schritten in den ersten Stock. Ins Wohnzimmer. Um den Fernseher anzuschalten.
Das Foto eines jungen Mädchens erscheint auf dem Bildschirm. Sie hat dunkle Haut und ein breites Gesicht. Langes, schwarzes Haar. Und schwarzbraune Augen.
Die Goldjungs sind endlich dahintergekommen, wer die Tage seines jungen Lebens im Ertränkungspfuhl beenden musste. Wortlaut der grell geschminkten Nachrichtensprecherin:
»Soleen Grebase war erst siebzehn Jahre alt und stammt aus einer kurdischen Familie. Sie kam vor einigen Jahren mit ihrer Familie nach Island. Laut des Bezirksverwalters in Selfoss ist noch nicht vollständig geklärt, wann oder auf welche Weise Soleen ums Leben gekommen ist, da ein endgültiger Obduktionsbericht noch nicht vorliegt.«
Ich gehe in die Küche, nehme ein Fertiggericht aus dem Kühlschrank. Schiebe es in die Mikrowelle.
Vor dem Fenster erstreckt sich der Garten des Nachbarhauses mit seinen bunten Blumenbeeten. Die schönen Sommerblumen haben den Gipfel ihres Lebens erreicht. Zeigen der Welt ihre schönsten und ansprechendsten Seiten.
Aber ich weiß, dass diese Blumen in nur wenigen Wochen verwelken und sterben werden. Wenn die feuchten, kalten Herbsttage das Kommen des Winters ankündigen, werde ich keine Anzeichen im Garten mehr finden, dass sie jemals existiert haben.
Alles aus. Kaputt. Finito.
Scheißleben!
4
Montag, 16. August
Die Presse behandelt Tag für Tag ausführlich den Mord im Ertränkungspfuhl. Obwohl sie nichts Neues über die Ermittlungen des Falles berichten können.
Die DV hat ein paar Personen ausgegraben, die das Opfer persönlich kannten. Oder jemand anderen aus der Familie. Die meisten kannten die Tote allerdings nur flüchtig. Aber es reicht, um dem Blatt ein paar Sätze in Anführungsstrichen zu spendieren. Kommentare, von denen aus man einen ganzen Artikel schreiben und auf dem Titelblatt mit einem Foto von Soleen bringen kann.
Ich blättere die Zeitung im Büro durch. Frühmorgens. Während mein Computer, der Drucker und der Kopierer warm werden.
Bleibe an einer riesengroßen Überschrift hängen.
Ermordet für die Ehre der Väter
Der Artikel ist mit den Fotos von ein paar jungen Mädchen aufgepeppt. Sie wurden alle von ihrem Vater, Bruder oder einem nahen Verwandten umgebracht. Nur weil sie gegen die strengen Sitten ihres Clans verstoßen haben. Weil sie mit jungen Männern zusammen gewesen waren, die eine andere Staatsangehörigkeit oder einen anderen Glauben haben. In Schweden. In Deutschland. Und in Großbritannien.
Die Mädchen waren alle Musliminnen. Wie Soleen.
Was will dieses Käseblatt damit andeuten? Dass der Vater des Mädchens sie ertränkt hat, weil sie mit einem isländischen Jungen zusammen war?
Ich kann nicht widerstehen. Rufe Máki an.
»Was zum Teufel macht ihr da eigentlich?«, frage ich, sowie er abhebt.
Máki lacht heiser. »Na. bist du endlich wieder aus dem Kloster rausgekommen?«, stellt er die Gegenfrage.
»Aus welchem blöden Kloster?«
»Ich meine nur, du hast dich in den letzten Monaten so zurückgezogen, was viele von uns wirklich schade finden, denn es war immer so lustig, dich bei den Gangsterjagden dabeizuhaben. Aber ich sage den Jungs hier immer, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann du deine Abstinenz aufgibst …«
»Abstinenz?«, falle ich ihm ins Wort.
»… weil du ja nicht unbedingt von Natur aus wie eine Nonne veranlagt bist.«
»Wie eine Nonne?«
»Ja genau, du bist so jemand, der Feuer und Flamme ist, wie diese merkwürdigen Ritter im Mittelalter, die zu Kreuzzügen aufgebrochen sind, um den Teufel zu bekämpfen, egal, ob es ihn wirklich gab oder er nur in ihrer Phantasie existiert hat.«
Máki hat sein Ziel erreicht. Mich wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen. Wir haben in den letzten Monaten ab und zu mal miteinander telefoniert. Obwohl er als Journalist wenig von einer Unterhaltung mit mir hatte. Und ich hatte kaum Bedarf an seinen besonderen Fähigkeiten, Geheimnisse aus dem Bodensatz der Gesellschaft auszugraben.
Máki ist schon seit langem eine besondere Fundgrube für Informationen über die Unterwelt der Stadt. Er kennt die Welt der Kriminellen wie seine Westentasche. Weiß immer, wo man am
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