Mord ist der Liebe Tod
gefallen. Sie schüttelte den Kopf. Da musste sie als Erstes anrufen, denn sie traute der Klinikärztin zu, hier auf der Matte zu stehen.
Es war ja nicht so, dass sie nicht selbst die Notwendigkeit einer Gesprächstherapie erkannte. Jedem anderen hätte sie in ihrer Situation dringend dazu geraten. Aber selbst da zu sitzen und über Dinge zu reden, über die sie nicht reden wollte, ja über die sie eigentlich nicht einmal nachdenken wollte … das war nicht einfach.
Wie so llte ihr Leben weitergehen? Sie konnte nicht mehr in ihren Job zurückkehren. Nicht dorthin, wo sie auf ganzer Linie versagt hatte. Meine Güte, eine Kommissarin, die sich den Serienmörder, den sie wochenlang sucht, zum Liebhaber nimmt und es nicht mal merkt. So jemand war untragbar. Aber zu Hause untätig rumsitzen konnte sie auch nicht, da würde sie verrückt werden. Wenn sie es nicht schon war.
Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Ärztin die Befürchtung hatte, sie könne sich etwas antun, sobald sie aus der Obhut der Klinik entlassen war. Aber da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Sie war nicht feige und sie würde Paul nicht die Genugtuung geben, sie zu guter Letzt doch noch in den Tod getrieben zu haben. Nicht nachdem sie es unglaublichem Glück zu verdanken hatte, dass sie überhaupt überlebt hatte. Wenn er sie in Kanada umgebracht hätte, wäre ihre Leiche wohl niemals aufgetaucht.
Überrascht merkte sie, wie Wut in ihr aufstieg. Das war eine Empfindung, die sie lange nicht wahrgenommen hatte. Ja, wenn sie recht überlegte, hatte sie gar nicht viel wahrgenommen. Gerade die ersten Wochen waren wie in einem Nebel vergangen. Wie viel davon auf den Schock zurückzuführen war und wie viel auf die Medikamente, die ihr verabreicht wurden, konnte sie nur vermuten.
Gut, damit war es jetzt vorbei. Sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen, wie auch immer. Und zwar ohne Tabletten. Auch wenn es verdammt wehtat und damit meinte sie nicht ihre Hüfte.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon nach neun war. Sie humpelte in den Flur und suchte in ihren Sachen die Visitenkarte der Psychologin. Telefonisch vereinbarte sie einen Termin für den nächsten Tag.
Als nächstes packte sie ihre Tasche aus und lüftete die Wohnung. Kurz zögerte sie, dann griff sie nochmal zum Telefon und rief Sandra an. Sie verabredeten, dass Jenny am nächsten Tag Wilma bei ihr abholen würde.
Zu Sandra konnte sie unbesorgt fahren, sie wusste, dass ihre Freundin sie nicht mit Fragen quälen würde. Irgendwas musste sie noch als Dankeschön besorgen. Wer sonst kümmerte sich schon freiwillig um eine Vogelspinne, so pflegeleicht sie auch war?
D ie zwei Telefongespräche hatten sie ganz schön angestrengt. Aber immerhin hatte sie die Aktivität vom Grübeln abgehalten. Das Grübeln war das Schlimmste. Wenn die Gedanken sich immer nur um eines drehten. Beziehungsweise um einen, Paul. Sie hasste den Namen. Zukünftig würde sie es vermeiden, ihn zu benutzen.
Mit Ach und Krach brachte sie den Tag herum. Sie versuchte zu lesen, gab es jedoch auf, nachdem sie eine Seite zum vierten Mal gelesen hatte, ohne auch nur einen Satz verstanden zu haben. Dann machte sie den Fernseher an, zappte jedoch nur durch die Programme. Überall Werbung oder Liebesfilme mit turtelnden Pärchen. Krimis waren auch nicht gerade das, was sie sehen wollte. Abends um neun legte sie sich wieder ins Bett und versuchte zu schlafen. Im Gegensatz zu gestern stellte sich der Schlaf heute nicht so leicht ein. Um dreiundzwanzig Uhr gab sie es auf und nahm eine der Schlaftabletten, die sie in der Klinik bekommen hatte. Eine halbe Stunde später schlief sie traumlos und wachte erst auf, als um halb neun der Wecker klingelte. Kaum den zweiten Tag zu Hause, fing der Stress wieder an.
Kurz vor zehn kraxelte sie die Treppe zur Krankengymnastik-Praxis am Südbahnhof hinauf. Sie sollte so viel wie möglich Treppen laufen, auch wenn‘s weh tat. Schwer stützte sie sich auf ihre Gehhilfe, als sie zur Anmeldung kam.
Eine Stunde später war sie überzeugt, dass Krankengymnasten ihre Berufswahl angeborenem Sadismus verdankten und nahm den Aufzug nach unten. Sie wollte es nicht übertreiben. In einem kleinen Geschäft kaufte sie noch Kaffee und ein paar Brötchen und fuhr mit dem Bus wieder nach Hause.
Vor ihrem Therapietermin hatte sie noch Zeit für ein spätes Frühstück. Appetit hatte sie zwar nicht wirklich, aber Lust auf einen richtigen Kaffee, in der Klinik war er eher mäßig
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