Mord ist ihre Leidenschaft
zusammen aufgewachsen. Ich kannte seine Familie. Sein jüngerer Bruder war genauso alt wie ich. Wir haben in den Straßen von Dublin dieselben Mädchen angesprochen und sie in irgendwelchen dunklen Gassen zum Seufzen gebracht. Er war ein Freund. Vor langer, langer Zeit, aber er war ein Freund.«
»Es tut mir Leid. Ich war wieder zu spät.«
Roarke schüttelte den Kopf und starrte auf den Mann, der ihm als Junge so vertraut gewesen war. Eine weitere verlorene Seele, dachte er betrübt, als Eve ihr Handy aus der Tasche zog und bei der Zentrale anrief: »Ich habe einen Mord.«
Mit versiegelten Händen und Stiefeln kniete sie sich in das Blut. Es war deutlich zu erkennen, dass Shawn Conroys Sterben langsam und obszön gewesen war. In seiner Kehle und in seinen Handgelenken gab es schmale, ganz genau bemessene Schnitte, durch die der Saft des Lebens nicht herausgesprudelt, sondern über endlos lange Stunden aus ihm herausgetröpfelt war.
Fast wie von einem Chirurgen, war er sauber vom Brustbein bis zur Lende aufgeschnitten worden, bestimmt unter grauenhaften Schmerzen, doch zugleich zu vorsichtig, als dass die Erlösung schnell gekommen war. Sein rechtes Auge und die Zunge fehlten.
Ihrer Schätzung nach war er vor höchstens zwei Stunden gestorben.
Sie hatte keinen Zweifel, dass er schreiend aus der Welt geschieden war.
Eve trat einen Schritt zurück und machte eine Aufnahme vom Tatort und der Leiche. Dann drehte sie sich zur Seite, bückte sich nach der Hose, die dem armen Shawn vom Leib geschnitten und achtlos fortgeworfen worden war, und zog die Brieftasche daraus hervor.
»Das Opfer wird als Shawn Conroy, Ire, Alter einundvierzig, wohnhaft 783, Neunundsiebzigste Straße West, identifiziert. In der Brieftasche befinden sich neben der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zwölf Dollar in Kreditchips sowie drei Fotografien.«
Schließlich zog sie aus der anderen Hosentasche ein paar Schlüssel, lose Kreditchips im Wert von drei Doller und fünfundzwanzig Cent, einen zerrissenen Zettel mit der Adresse des Hauses, in dem er ermordet worden war, sowie einen weiteren Glücksbringer mit einem leuchtend grünen, vierblättrigen Kleeblatt auf der Vorderseite und der Skizze eines Fisches auf der Rückseite hervor.
»Lieutenant.« Der Pathologe trat an sie heran. »Sind Sie mit der Leiche fertig?«
»Ja, nehmen Sie sie mit. Sagen Sie Dr. Morris, dass er sich persönlich um die Sache kümmern soll.« Sie tütete die Brieftasche sowie den Inhalt von Shawns Hosentasche ein und blickte zu ihrem Mann. Bisher hatte er keinen Ton gesagt und auch seine Miene drückte weder seine Gedanken noch seine Gefühle aus.
Automatisch wusch sie das Blut und den Siegellack von ihren Händen ab und ging zu ihm hinüber.
»Hast du so ein Ding schon mal gesehen?«
Er blickte in die Tüte mit dem Inhalt von Shawns Taschen und entdeckte dort die Münze. »Nein.«
Eve musterte ein letztes Mal die inmitten eleganter Pracht obszön drapierte Leiche. Sie legte den Kopf auf die Seite, kniff die Augen zusammen und starrte gedankenversunken auf die neben einem Strauß pastellfarbener Seidenblumen auf einem kleinen Podest stehende elegante Figur.
Es war die aus weißem Stein gehauene Statue einer Frau. Sie trug ein langes Kleid und einen Schleier, doch war es nicht die Kleidung einer Braut. Da ihr die Statue fehl am Platz und gleichzeitig seltsam bekannt vorkam, wandte sie sich an Roarke. »Was ist das – die kleine Statue dort drüben?«
»Was?« Roarke blickte auf die Figur, trat verwundert einen Schritt nach vorn und wollte das Stück ergreifen, als Eve ihn schnell am Arm zurückhielt. »Die HJM. Seltsam.«
»Die was?«
Sein Lachen war barsch und bar jeden Humors. »Entschuldige. Ein katholisches Kürzel. Die Heilige Jungfrau Maria.«
Eve runzelte verwirrt die Stirn. »Bist du etwa katholisch?« Aber war das tatsächlich eine Überraschung?
»Früher einmal«, kam die geistesabwesende Antwort. »Allerdings habe ich es nie bis zum Chorknaben gebracht. Die Figur gehört hundertprozentig nicht hierher. Die Firma, die die Häuser für mich dekoriert, stellt für gewöhnlich keine religiösen Statuen in den Mietwohnungen auf.«
Er betrachtete das liebreizende, heitere, wunderschön aus weißem Marmor gehauene Gesicht. »Er hat sie hier aufgestellt.«
Eves kühler Blick verriet, dass sie zu demselben Schluss gekommen war. »Sein Publikum«, stimmte sie ihm denn auch unumwunden zu. »Was hat er getan? Wollte er sich vielleicht vor ihr
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