Mord mit kleinen Fehlern
Bild zu vergessen. Es war zu wenig, und es kam zu spät. Solange sie sich erinnern konnte, hatte ihre Mutter ihre diversen Süchte auf unbedeutende Agenten geschoben, die ihr Talent nicht erkannten. Schon als Kleinkind wurde Anne vom Babysitter zur Nachbarin, zu irgendeiner Fremden gereicht und durch eine Reihe von Wohnungen geschleift, und später saß sie für gewöhnlich allein mit ihren Hausaufgaben vor dem Fernseher. Es war gar nicht so schlimm. Sie stellte sich einfach vor, sie würde in der East 68th Street Nummer 623 leben, in einer bescheiden möblierten Wohnung in New York, mit einer Ziegelwand, weiß gestrichen, und einem Kaminsims, auf dem sich zwei chinesische Figuren, eine Uhr und hin und wieder eine Schachtel Phillip-Morris-Zigaretten befanden. Ihre Mutter war Lucy Ricardo, ihr Vater ein gut aussehender kubanischer Bandleader, und sie waren alle sehr glücklich, bis der kleine Ricky auftauchte. Niemand brauchte einen jüngeren Bruder.
Anne sprang in den Beetle und startete den Wagen, die Erinnerungen jedoch konnte sie nicht abschütteln. Ihrer Mutter war sie nicht einmal wichtig genug gewesen, um sich um die Operation ihrer Hasenscharte zu kümmern. Eine Fremde hatte sich ihrer angenommen; eine Nachbarin, die früher als Krankenschwester gearbeitet hatte, verschaffte ihr eine kostenlose Operation in einem Lehrkrankenhaus. Nie war Annes Mutter für sie da gewesen. Anne hatte sich Kredite für das College und das Jurastudium besorgt und würde sie bis ans Ende ihrer Tage zurückzahlen müssen. Ihr Herz verhärtete sich.
Als Anne den Parkplatz verließ, überlegte sie, ob sie zu Matts Haus fahren sollte, aber angesichts der Tatsache, dass es im Herzen des historischen Viertels lag, würde das zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Sie sah auf die Uhr. 13 Uhr 15. Die Sonne stand hoch und heiß am Himmel, überall waren Menschen, und die Stadt vibrierte vor Festivitäten anlässlich des vierten Juli. Anne beschloss, sich wieder ihrem großen Ziel zu widmen und eine öffentliche Spur zu hinterlassen, um Kevin auf sich aufmerksam zu machen.
Eine Stunde später hatte Anne einen halbwegs legalen Parkplatz gefunden und bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmenge auf dem Benjamin Franklin Parkway. Sie wischte sich die kurzen Locken aus der Stirn, zeigte ihre Narbe, genoss die Freiheit, ohne Verkleidung und ohne Lippenstift unterwegs zu sein.
»He, sind Sie nicht die Frau, die man für tot gehalten hat? Die Anwältin? «, fragte ein Mann mit einer roten Budweiser-Kappe. Er hielt ein kleines Mädchen an der Hand und war mit dem Strom all der anderen auf dem Weg zur Party auf dem Parkway.
»Äh, ja.« Anne lächelte ihn zufrieden an. Es freute sie, dass ihr Bild sich herumsprach, und der Mann strahlte, als ob er eine Berühmtheit getroffen hätte. Anne hoffte, er würde möglichst vielen davon erzählen, dann wurde sie vom Andrang der Menschen weggespült. Arbeiter hissten ein Plastikspruchband mit der Aufschrift RIESENSANDWICH NUR EIN DOLLAR auf einem gigantischen weißen Zelt am Eakins Oval, und Anne blieb kurz stehen, um abermals Matt anzurufen. Doch sie erreichte ihn immer noch nicht. Der Geruch nach gegrillten Hamburgern und Hühnchenkebabs waberte durch die Luft, und sie kramte etwas Geld heraus. Anne fühlte sich als Teil all der Besucher an diesem vierten Juli: Sie schlug einfach die Zeit tot, bis es dunkel wurde und das Feuerwerk begann. Sie sah auf die Uhr. 15 Uhr 15. Zeit für die Party in ihrer Straße.
Anne wurde langsamer, als sie die Waltin Street erreichte, die blau-weiße Absperrungen für den Verkehr blockierten. Im gesprenkelten Sonnenschein der ahorngesäumten. Straße tummelten sich mindestens sechzig Erwachsene und zahlreiche Kinder, zum Teil mit Hunden. Sie suchte die Menge nach Kevin ab. Er hatte die Schilder mit der Aufschrift STRASSENFEST 15 BIS 17 UHR sicher gesehen. Womöglich beobachtete er sie gerade, wartete nur auf seine Chance. Anne bahnte sich ihren Weg um die Absperrungen am Kopfende der Straße, wo ein älterer Mann in einem makellosen Polohemd und gebügelten Hosen offenbar Ausweise kontrollierte.
»Ms. Murphy, Sie müssen nicht beweisen, dass Sie in dieser Straße wohnen«, sagte er. Er strahlte, als er sie sah. »Ich erkenne Sie! Ich habe Sie im Fernsehen gesehen! «
»Danke, Mr. ...«
»Ich bin Ihr Nachbar Bill Kopowski, von Haus Nummer 2254, das mit den roten Fensterläden.« Er wies mit dem Finger. »Wir waren uns nicht sicher, ob wir das Straßenfest abhalten
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