Mord mit kleinen Fehlern
Ampel auf Grün sprang. Es geschah immer wieder, dass Verteidiger sich mit ihren Mandanten anfreundeten, aber in diesem Fall war das lächerlich. Mentale Notiz: Männer haben Intimität womöglich doch besser drauf, als Dr. Phil glaubt.
Anne fuhr neben einen Minivan, an dessen Antenne eine amerikanische Flagge wehte, und ging das Szenario noch einmal durch. Dietz versuchte aufgrund der CD, das Verfahren zu torpedieren, doch davon wusste Matt nichts. Als Matt ihm von der Affäre mit Anne erzählte, ergriff Dietz die Gelegenheit, Matt zu feuern. Nun würde Dietz seiner Frau zu Hause die Neuigkeit erzählen und die Schuld auf sie beide, Matt und Anne, abwälzen. Wie hatte sie nur zulassen können, in eine solche Lage zu geraten?
Anne ordnete sich hinter dem Minivan ein, schaltete die Klimaanlage auf maximal und ließ sich von ihr die brennende Wange kühlen. Dann fiel ihr Kevin wieder ein. Viel leicht hatte er zugesehen, zugehört, abgewartet. Eine Welle der Angst schoss durch sie hindurch, aber sie zwang sie mit ihrem Willen in die Schranken. Sie musste Kevin aus seinem Versteck locken, sonst würde sie ihn nie erwischen. Anne suchte mit den Augen die Straße ab. Dann traf es sie schlagartig: Falls Kevin die Szene auf der Veranda belauscht hatte, dann wusste er jetzt, dass Anne mit Matt geschlafen hatte. Das würde ihn in Rage und auch Matt in Gefahr bringen. Annes Gedanken rasten. Matt war in West Philly ohne Auto gestrandet. Wo waren er und Dietz hingefahren? Was hatten sie gekauft?
Anne raste mit dem Wagen zum Ende des Häuserblocks, dann weiter zum nächsten. Es war ein reines Wohngebiet, weit und breit kein Laden in Sicht. Eine junge Mutter mit zwei Kindern wartete darauf, die Straße überqueren zu können, Anne hielt an und rief: »Wissen Sie, ob es hier in der Nähe einen Supermarkt gibt? Einen Laden, in dem man Holzkohle kaufen kann?«
»Den Minimart an der Tankstelle. Fünf Häuserblocks weiter und dann rechts. Die haben Holzkohle, wenn sie nicht schon ausverkauft ist.«
»Danke!« Anne winkte ihr zu und folgte der Richtungsangabe zum Minimart, einem leuchtend weißen Gebäude mit Tanksäulen davor und einem vollen Parkplatz. Matt war nicht zu sehen, aber Anne parkte trotzdem, schaltete den Motor aus und sprang aus dem Beetle. Sie eilte in den Laden, vorbei an einer Pyramide aus Holzkohle. Anne blickte sich rasch um. Auch hier war er nicht zu sehen. Falls er hier gewesen war, war er längst weg. Sie wollte gerade zurück zum Ausgang, als sie einen schäbigen Schwarzweißfernseher auf einem Regal hinter der Kasse entdeckte. Die Szene auf dem Bildschirm ließ sie abrupt stehen bleiben.
Das Bild zeigte ihre Mutter, neben dem stellvertretenden Polizeichef. Das musste die Pressekonferenz sein. Anne klinkte den Lärm im Laden aus und beugte sich über die Theke näher zum Fernsehapparat.
»Um auf Ihre Frage zu antworten«, sagte ihre Mutter gerade, »ich freue mich ungemein, dass meine Tochter am Leben ist, und ich werde weder jetzt noch zu einem späteren Zeitpunkt eine Klage gegen die Polizei, die Stadtverwaltung oder die Gerichtsmedizin anstreben.«
Anne blinzelte überrascht. Ihre Füße juckten und wollten weiter, aber sie stand wie festgewurzelt. Ihre Mutter lehnte Geld ab?
Aus dem Off fragte ein Reporter: »Mrs. Murphy, warum hat man Sie nicht gerufen, um die Leiche Ihrer Tochter zu identifizieren? «
Anne wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort.
Ihre Mutter senkte den Kopf, und als sie wieder aufsah, standen Tränen in ihren Augen. »Ich wurde nicht gerufen, um Anne zu identifizieren, weil sie keine Ahnung hatten, wo ich mich aufhielt. Ich habe in der Vergangenheit einige furchtbare Fehler gemacht, aber der größte war, meine Tochter vor langer Zeit zu verlassen.«
Anne staunte über das, was sie da hörte. Sie wollte gehen, sie wollte bleiben.
»So schrecklich es auch klingt, erst durch die Nachricht von Annes Tod wurde mir klar, was ich an ihr verloren hatte. Mir bietet sich jetzt eine Gelegenheit, die nicht viele Eltern bekommen - eine zweite Chance. Ich kann nur hoffen, dass sie mir erlauben wird, meine Fehler wiedergutzumachen. Anne, wenn du draußen bist, dann sei versichert, dass mir Leid tut, was ich dir angetan habe.« Ihre Mutter blickte voller Ernst in die Kamera.
Anne spürte, wie sich ihr Brustkorb zusammenzog. »Quark!«, hörte sie sich reflexartig sagen. Der Kassierer warf ihr einen Blick zu.
Sie eilte zum Ausgang, rannte vor dem Fernsehgerät davon, versuchte, das
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