Mord mit kleinen Fehlern
folgte.
Die Nachtluft wurde von dem Plopp-plopp des fernen Feuerwerks punktiert, und die spitzen Absätze von Annes schicken Pantöffelchen klickten über den Gehweg. Müdigkeit und Emotionen holten sie ein, aber sie wischte alles beiseite. Das schuldete sie Willa. Es war schrecklich, dass sie den ganzen Tag gebraucht hatte, um hierher zu kommen. Sie mussten Willas Familie ausfindig machen, bevor dieser Tag zu Ende ging, und ihren Angehörigen die schlimmste Nachricht ihres Lebens übermitteln.
Sie kamen an Hausnummer 2685 vorbei, dann an 2687. Die Reihenhäuser entlang dieser schmalen Nebenstraße erinnerten Anne an Fairmount, es war derselbe Kolonialstil; eine Aufreihung miteinander verbundener Ziegelhäuser, zweistöckig und mit einer Eingangstür, die von jeweils zwei Fenstern flankiert wurde. Die Häuser unterschieden sich nur durch den Anstrich der Fensterläden oder den gelegentlichen Blumentopf aus Ton auf der Vordertreppe. Annes Magen verkrampfte sich, als sie zu 2689 gelangten. Sie öffneten Willas Beutel und tasteten nach den Schlüsseln. Es fühlte sich entsetzlich an, in die Privatsphäre der toten Frau einzudringen. Der Griff in ihre Tasche, der Einbruch in ihr Heim.
»Willst du draußen warten?«, fragte Bennie, aber Anne schüttelte den Kopf.
»Danke, nein. Ich bin diejenige, die es ihr schuldet.«
»So darfst du nicht denken. « Bennies Tonfall wurde weicher, ihren Gesichtsausdruck konnte Anne im Dunkeln jedoch nicht sehen. Die einzige Straßenlampe befand sich am anderen Ende der Straße. Ungefähr so hatte auch Annes Straße gestern Abend ausgesehen, als Willa Annes Haustür geöffnet hatte.
Anne fischte nach Willas Schlüsseln und steckte einen nach dem anderen in das Schloss der Haustür, bis einer passte. Sie öffnete die Tür und trat in die Dunkelheit. Bitte, Gott, lass es kein Flurlicht geben. Plötzlich ging ein Licht an. Anne fuhr herum.
»Ist mit dir wirklich alles in Ordnung? « Bennie stand hinter ihr, die Hand auf einem Schalter an der Wand, mit der anderen schloss sie die Tür hinter sich.
»Es geht mir gut. « Anne drehte sich wieder um. Es gab keinen Flur, und das Licht erhellte eine weiße Pergamentkugel mit roten chinesischen Schriftzeichen, die an der Decke des kleinen Wohnzimmers hing. Doch ein Wohnzimmer wie dieses hatte Anne noch nie gesehen. Jeder Zentimeter war mit Zeichnungen bedeckt. Kunstfertige, detailreiche Kreidezeichnungen von Stadtansichten waren mit Reißzwecken an der Wand befestigt, vom Fußboden bis hinauf zur Decke. Skizzen von Ladenfronten auf dem Italian Market. Hochhäuser im Geschäftsviertel. Die Betonumrisse einer
Expressway-Kreuzung. Die Lichter an den Bootshäusern entlang des Schuylkill Rivers.
»Wau«, entfuhr es Bennie leise. »Sieh dir diese Bilder an. Es müssen Hunderte sein. «
»Sie war so talentiert.« Anne schmeckte Bitterkeit in ihrem Mund. Dafür würde Kevin bezahlen müssen. Dass er Willa getötet hatte.
»Fällt dir nichts Ungewöhnliches an den Bildern auf?«
»Eigentlich nicht.« Anne besah sich die Zeichnungen.»Sie sind alle in Schwarz und Weiß gehalten.«
»Stimmt. Und auf keinem einzigen sind Menschen zu sehen.«
Anne warf abermals einen Blick auf die Zeichnungen und sah, dass Bennie Recht hatte. Die Reihe an Zeichnungen des Fitler Square konzentrierte sich auf die Gaslampen und die Schatten, die sie warfen, oder auf das knifflige Muster des gusseisernen Zaunes. Es gab keine Babys, keine Mütter, keine Kleinkinder. Eine Studie des Rittenhouse Square zeigte dessen Statuen - einen Frosch, eine Ziege -, aber keinen der Menschen, die diese Statuen so oft als Treffpunkt vereinbarten. Anne wusste nicht gleich, was das zu bedeuten hatte.
»Ich mag Kunst mit Menschen«, erklärte Bennie. »Du kennst ja meine Ruderbilder von Thomas Eakins.«
»Klar.« Un d ic h hass e sie . »Ich liebe sie.«
»Sie sind von einer Ausstellung im Art Museum. Warst du dort?«
»Habe ich verpasst.« Aber ich war im Lucy-und-Desi- Museum in Jamestown, New York. Zählt das auch?
Anne sah sich weiter im Wohnzimmer um. Es gab kein Fernsehgerät, auch keinen Videorecorder, nur einen weißen Korbsitz, der im Stil der Sechzigerjahre von der Decke hing, davor ein schnurloses Telefon sowie ein Stereogerät und ein Stapel CDs auf einem weißen Regal. Es sah mehr wie eine Galerie aus, weniger wie ein Wohnzimmer, und enthielt keinerlei Hinweise auf Willas Familie. Dennoch musste Anne einfach noch etwas in diesem Raum verweilen und den schwachen
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