Mord und Mandelbaiser
habe ich nicht. Die kann er nur von einem Arzt bekommen, der die Totenschau ernst nimmt. Aber Rudolf schreckt ja davor zurück, einen solchen hinzuzuziehen – verständlicherweise. Was für ein Skandal, wenn er Stenglichs Befund nachprüfen lassen würde, wodurch die Hinterbliebenen zwangsläufig unter Mordverdacht gerieten. Was für ein nicht wiedergutzumachender Schaden, wenn sich letztendlich herausstellte, dass die Flecken harmlos sind. Westhöll wäre am Ende.
Aber jedes Mal wenn Rudolf wieder solche Flecken sieht, überlegte sie, gerät er tiefer in die Klemme. Wo und wann er ihnen wohl nächstens begegnen wird?
Wenn der Zufall es so wollte, konnte es bis dahin lange dauern, denn ihr Neffe versorgte längst nicht alle Toten, die das Unternehmen Westhöll bestattete, persönlich. Einen erklecklichen Teil hatte Pfeffer zu übernehmen, wie beispielsweise den Sparkassenleiter heute, weil Rudolf mit einem Leichentransport ins Chiemgau unterwegs war.
Wie viele unserer Kunden versorgt Pfeffer eigentlich im Schnitt?, fragte sich Hilde. Die Hälfte? Ein Drittel? Das würde bedeuten, dass die Flecken an doppelt so vielen Verstorbenen vorhanden gewesen sein könnten, als Rudolf ahnt.
Plötzlich fuhr ihr ein neuer Gedanke durch den Sinn: Was, wenn die Flecken schon zu Lebzeiten sichtbar waren? Sich in mehr oder weniger ausgeprägter Form bereits vor dem Tod ankündigten? Wenn ja, dann hatte sie eine Chance, sich selbst ein Bild zu machen. Einen Krankenbesuch würde ihr niemand verwehren, in das Haus eines Verstorbenen zu marschieren, dort ins Sterbezimmer vorzudringen und die nackten Beine des Toten zu examinieren, schon.
Auf einmal war Hilde ganz aufgeregt. Sie würde Ermittlungen anstellen. Unverzüglich. Sie würde einige der hinfälligen Granzbacher Senioren aufsuchen und sich deren Knie-Innenseiten ansehen. Aber damit nicht genug. Sie würde sich auch die genauen Bezeichnungen aller Medikamente vermerken, die sie im Krankenzimmer finden konnte.
Warum den Knoten nicht von hinten aufdröseln?, dachte sie. Wofür sitzt Thekla an der Quelle? Sie kann die Nebenwirkungen jeder einzelnen Pille ausfindig machen, und im Handumdrehen wissen wir, ob der Kranke mit einer Arznei behandelt wird, die solche Flecken verursachen könnte. Unangenehm, so ein Krankenbesuch bei jemandem, der definitiv nicht mehr lange zu leben hat, ging es Hilde durch den Kopf, aber was sein muss, muss sein. Wer sich nicht vorwärts bewegt, bleibt stecken.
Als sie jedoch zu überlegen begann, wem sie (unter Vorspiegelung von Mitgefühl und Anteilnahme) ihre Aufwartung machen sollte, fiel ihr niemand ein. Also nahm sie das örtliche Telefonbuch aus der Schublade, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, und knallte es so kräftig auf den Schreibtisch, dass die Stifte tanzten.
Hilde hatte die Namensrubriken bis »K« bereits durchgesehen, hatte sich »Brandmeier« herausgeschrieben und danach »Froidl«; zwei Herren über neunzig, die beide, wie sie wusste, schon lange bettlägerig waren, die sie jedoch nicht gut genug kannte, um ihnen kurzerhand einen Krankenbesuch abzustatten. Deshalb suchte sie weiter. Bis sie bei »K« auf »Kaltenbach« stieß.
»Treffer«, murmelte sie.
Anna Kaltenbach war die Mutter des amtierenden Bürgermeisters. Sie hatte jahrzehntelang als Lehrerin an der Granzbacher Grundschule gearbeitet (hatte dort Anfang der Sechziger auch Hilde unterrichtet, bevor die zu den Ursulinen kam) und in den Siebzigern den Granzbacher Kirchenchor geleitet, in dem Hilde seit ihrem achtzehnten Lebensjahr mitsang.
Hilde erinnerte sich an das Geflüster, das vergangenen Sonntag während des Gottesdienstes durchs Chorgestühl gehuscht war: »Die alte Kaltenbach, die macht’s nicht mehr lang.« – »Die macht’s überhaupt nicht mehr lang.« – »… für ihre Beerdigung hat sie sich die ›Missa mundi‹ gewünscht.« – »›Missa mundi‹?« – »… lateinische Choralmesse.« – »… viel zu schwierig für uns …«
Hilde pfiff ihre Gedanken an den Schreibtisch zurück. Was immer der Kirchenchor bei der Beerdigung zum Besten geben würde, Anna Kaltenbach lag offenbar in den letzten Zügen, und Hilde stand ihr nahe genug, um ihr am Sterbebett Zuspruch leisten zu dürfen. Und das würde sie auf der Stelle tun, bevor es womöglich zu spät dafür war.
Während Hilde mit Anna Kaltenbachs Schwiegertochter telefonierte, kam Lore in die Registratur.
Sie legte ein paar Akten ab, ordnete die Lamellenvorhänge vor den Regalen,
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