Mord unter den Linden (German Edition)
von
seinem Leibdiener jede Spur fehlte. Die Stoppuhr lag im Gras. Nur Ferdinand, sein
zwei Jahre jüngerer Bruder, kniete am Boden und lockerte die Schrauben am
Ersatzrad.
»Wo ist Moses?«,
fragte Otto.
Ferdinand sah auf.
Er war schlank, hatte lange Gliedmaßen und ein Vogelgesicht. Im Umgang mit
Menschen war er eher scheu. Wohler fühlte er sich in der Gesellschaft von
technischen Apparaten. Vor einigen Jahren hatte er aus Gewissensgründen eine
hoch dotierte Stellung als Waffenkonstrukteur gekündigt. Seitdem arbeitete er
als Erfinder. Mit kostspieligen Experimenten hatte er seinen Erbteil bereits
komplett durchgebracht. Weil er von seiner Beratertätigkeit in der
Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und den bisherigen Patenten kaum leben
konnte, half Otto ihm häufig aus.
»Moses?«, fragte
Ferdinand zerstreut. »Ich hab gesagt, dass ich eine kleinere Übersetzung
brauche. Und da ist er zur Werkstatt gelaufen.«
»Das hätte doch
Zeit gehabt«, sagte Otto. Wie ärgerlich! Nun wusste er nicht, ob er unter eins
fünfzig geblieben war. Er beschirmte seine Augen mit der rechten Hand und
spähte in die Ferne. Die Luft flirrte über dem Tiergarten. Von Moses war keine
Spur zu sehen.
»Herr Doktor!
Hallo, hier drüben.«
Otto drehte sich
um und erblickte Commissarius Funke, der hinter der Absperrung stand. Mit
seiner Butterblume – einem steifen, runden Strohhut –, dem blassen Teint, dem
taillierten Jackett und einer burgunderroten Hose wirkte Funke recht
geckenhaft, ja fast ein wenig feminin. Otto schob sein Rad über die Fahrbahn,
lehnte es gegen einen Holzpflock und kletterte über die Absperrung.
» Vous permettez ?«, fragte
der Commissarius mit weicher Stimme und stützte Ottos Arm ab.
»Danke«, erwiderte
Otto.
»Hier geht es ja
zu!«
»Am Sonntag findet
das Meisterschaftsfahren von Deutschland statt. Viele Athleten drehen noch ihre
letzten Runden, bevor sie in den Zug nach München steigen.«
»Nehmen Sie auch
teil?«
»Und ob«, sagte
Otto und schaute irritiert an seinen Beinen hinunter. Der Commissarius starrte
sie regelrecht an. Hatte er einen Ölfleck auf der kurzen Hose? Doch er konnte
nichts Ungewöhnliches feststellen. »Ist was?«
»Nein, nein«,
sagte Funke schnell und schlug einen dienstlichen Ton an. »Ich bin gekommen, um
Sie um Unterstützung zu bitten. Haben Sie schon von dem Anschlag auf das
Schöneberger Nationaldenkmal gehört?«
»Natürlich! Auf
der Rennbahn wurde heute von nichts anderem geredet.«
Der Commissarius
zog die Mittagsausgabe einer großen Tageszeitung aus der Jacketttasche und
schlug sie auf. »Der Täter hat einen Bekennerbrief geschrieben. Kennen Sie den
Wortlaut?«
»Einen
Bekennerbrief?«, fragte Otto erstaunt.
»Ganz recht«,
erwiderte der Commissarius. »Er hat der Zeitung einen Brief geschickt, und die
haben das Schreiben abgedruckt. Hören Sie, es heißt dort: ›Unsere Frauen lassen
sie kreuzigen, aber uns bespitzeln sie nach wie vor. Die Zerstörung des
Nationaldenkmals ist ein Symbol für den Kampf gegen die Tyrannei und ein
Zeichen der Hoffnung für die Überwindung eines kranken Parlamentarismus. Friede
den Hütten! Krieg den Palästen! Lang lebe der Sozialismus!‹«
Otto ließ die
Worte einen Moment lang sacken und sagte dann: »Eine Sache verstehe ich nicht
ganz. Warum sprengt er das Nationaldenkmal jetzt in die Luft? In wenigen Wochen
wird das Sozialistengesetz * aufgehoben.«
»Nun ja, das mag
schon sein, aber eines dürfte feststehen: Die politische Polizei wird
verdächtige Subjekte auch weiterhin überwachen.«
»Und da ist noch
ein Punkt, der mir seltsam vorkommt. Erst klingt alles ganz nach dem
Anarchisten Johann Most oder einem seiner Gefolgsleute, aber am Ende des
Briefes lässt der Täter den Sozialismus hochleben. Die deutsche
Sozialdemokratie lehnt doch jedes ungesetzliche und gewalttätige Vorgehen
kategorisch ab.«
»Das stimmt, aber
die Kollegen haben am Tatort einen Beutel gefunden, dessen Inhalt ganz klar auf
einen sozialdemokratischen Hintergrund des Täters schließen lässt. Momentan
gehe ich davon aus, dass es sich um einen Anarchisten mit sozialdemokratischen
Wurzeln handelt. Manchmal verwischen sich die Grenzen eben.«
»Da haben Sie
natürlich recht.«
»Viel bedenklicher
finde ich, dass die Kreuzigung erwähnt wird. Sie hat schon für mehr als genug
Aufsehen gesorgt, und wir haben bei der Ermittlung noch immer keinen
nennenswerten Fortschritt erzielt.«
»Ich verstehe«,
sagte Otto. »Und was kann ich
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