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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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Menschen handeln, dem lediglich die Gabe der Selbstdarstellung fehlte und
der sich nach und nach als zuverlässiger Charakter entpuppte.
    Sommsais Augen
waren immer in Bewegung, rastlos glitten sie von einem Gemeindemitglied zum
anderen. Auf Otto wirkte der Apostel deswegen eher wie ein Betrüger,
Heiratsschwindler oder Dieb, nicht aber wie ein brutaler Mörder, der einen
starren, gefühllosen Blick gehabt hätte. Nachdenklich hörte sich Otto weiter
an, was der Apostel seiner Gemeinde zu sagen hatte.
    »Nichts ahnend
stieg ich in Dresden aus dem Zug und wurde von unseren Brüdern und Schwestern
auf das Herzlichste empfangen. Die treuen Seelen wollten mich zu meiner
Unterkunft geleiten, wo ich etwas ruhen und mich auf den Gottesdienst am Abend
vorbereiten sollte. Plötzlich stellte sich uns ein Bahnsteigschaffner in den
Weg und behauptete, dass mein Fahrschein nicht gültig sei. Doch ich sah es, ich
sah in seinen Augen das teuflische Feuer, das dort auf und ab tanzte. Sein
Uniformrock roch nach Pest und Schwefel. Und da begriff ich, dass ich einer
Prüfung unterzogen wurde. Mit Inbrunst sprach ich ein Vaterunser, streckte die
Hand aus und schob den Teufelsdiener beiseite. Sogleich löste er sich in Luft
auf. Ja, ihr habt richtig gehört: Er löste sich in Luft auf. Und da knieten
unsere Brüder und Schwestern vor mir nieder und küssten meinen Ring.«
    »Halleluja«, rief
eine Frau in der ersten Reihe.
    »Wenn das Ende
aller Tage gekommen ist, braucht ihr keine Angst zu haben, denn Jesu wird bei
euch sein, wie er auch in Dresden bei mir war.« Sommsai streckte die Arme gegen
die Decke. »Und wenn ich zu euch spreche, dann nehme ich die Worte von ihm, und
wenn ich euch auf den einzigen Pfad führe, dann sollt ihr mir folgen.«
    »Halleluja«, rief
die Frau wieder. Dann stimmte die Gemeinde erneut ein Lied an. »Voller Unschuld
ist er uns erschienen / Und nahm uns lächelnd an die Hand. / Mit unserem Vater
wollen wir ziehen / Nun endlich ins verheißene Land.«
    Sommsai stieg von
der Kanzel. Plötzlich zitterte sein Arm, dann sein Bein, und schließlich wurde
sein ganzer Körper von wilden Zuckungen hin und her geschüttelt. Nach und nach
verstummte der Gesang. Wortlos starrten die Menschen auf ihren Apostel. Und
auch Otto begriff allmählich, dass eine Prophezeiung unmittelbar bevorstand.
    Da riss Sommsai
die Augen auf und verkündete mit dumpfer Stimme: »Tut auf eure Ohren und öffnet
eure Herzen! Ich habe euch damals gekannt, und ich kenne euch heute. Ich weiß
genau, wer ihr seid. So wie ihr zu mir kommen werdet, so werde ich euch
empfangen. Habt nur Geduld und bereitet euch vor. Wenn der Tag gekommen ist,
sollt ihr Abschied nehmen von den Zweiflern und den Ungläubigen, denn sie
werdet ihr nicht wiedersehen. Dann tauchet ein in das Licht, das ich euch
zeigen werde. Und treffet auf all die Menschen, von denen ihr schon Abschied
nehmen musstet; treffet auf unsere liebe Schwester Elvira Krause, die so brutal
aus unserer Mitte gerissen wurde. Umarmet und küsset euch, feiert euer
Wiedersehen. Und dann lasset euch betten und laben, lasset euch heilen und
trösten, lasset euch –«
    »Seht ihn«, schrie
die Frau aus der ersten Reihe, und ihre Stimme überschlug sich beinahe, »nun
seht ihn doch an! Er ist zu uns gekommen, er steht mitten unter uns und dürstet
nach eurer Liebe. Gebt sie ihm und vertraut euch ihm an. Zögert nicht länger
und wartet nicht bis morgen, denn jeder Tag kann der letzte sein, jede Stunde
kann das Ende bedeuten. Wo werdet ihr sein, wenn die ewige Dunkelheit über uns
kommt?«
    Ein junger Mann
sprang auf und rief: »Sommsai, bitte tauf mich noch heute. Nimm mich auf in
deine Gemeinschaft, damit ich nicht länger allein bin.«
    Die Rothaarige
stieß Otto den Ellenbogen in die Rippen. Auch er sollte aufstehen, um sich
taufen zu lassen. Zahllose Augenpaare richteten sich auf ihn. Die Gemeinde
verharrte in angespannter Erwartung. Zwei unendlich lange Minuten verstrichen
in absoluter Stille, aber Otto dachte nicht daran, auch nur einen Ton von sich
zu geben. Schließlich versprach Sommsai, den jungen Mann am Ende des
Gottesdienstes zu taufen, und ließ sich unter einem vielstimmigen »Dank dem
Allmächtigen in der Höh!« zu einem Stuhl in der ersten Reihe führen, wo er
erschöpft niedersank.
    Otto hatte genug
gesehen. Heribert Korittke mochte ein Betrüger sein, aber mit Sicherheit war er
kein Mörder. Er würde die großzügigen Spenden und die Bewunderung seiner
Gemeinde niemals aufs Spiel

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