Mord unter den Linden (German Edition)
schon beim
Verhör hielt sie ihren Kopf leicht gesenkt, doch anders als am Tag zuvor hingen
nun ihre Schultern nach unten. Sie trug einen schwarzen, weiten Rock und ein
sackartiges Obergewand, das die Rundung ihrer Brüste vollständig verhüllte. Ihr
Haar stand strähnig ab, und sie roch nach saurem Schweiß.
Wie hatte Otto
dieser Begegnung entgegengefiebert! In allen Farben hatte er sich das
Wiedersehen ausgemalt. Die Friederike Dürr in seiner Erinnerung war eine zwar
schüchterne und fromme, aber zugleich hübsche und adrette Dame gewesen, die
eine frappierende Ähnlichkeit mit seiner großen Liebe gehabt hatte. In der
Wannseebahn und Unter den Linden hatte er geglaubt, ihren hellen Schopf zu
sehen – und sein Herz hatte gerast, bis er seinen Irrtum erkannt hatte. Ja,
allein der Gedanke an sie hatte seine Kopfhaut kribbeln lassen. Und jetzt? Sie
schien vollkommen verändert. Welchem Hirngespinst war er da nur aufgesessen?
»Bitte gucken Sie
nicht so«, sagte Friederike Dürr verlegen. »Mir blieb leider keine Zeit, um
mich zurechtzumachen.«
Otto hoffte, dass
seine Bestürzung nicht zu offenkundig gewesen war. Und ganz abgesehen davon: Er
sollte endlich aufhören, sich zum Narren zu machen, und die ganze Sache
professionell angehen. »Ich bin hier, um noch einmal den Tag anzusprechen, als
Fräulein Krause verschwand. In der Vernehmung sagten Sie, dass Ihnen bei dem
Spaziergang niemand begegnet sei.«
Friederike Dürr
wich seinem Blick aus. »In der Vernehmung hab ich vieles gesagt.«
»Wie bitte?« Otto
wollte schon nachhaken, als ihn das laute Knarren einer Türangel ablenkte. Ein
Mann trat ins Freie. Er mochte um die fünfzig sein und war mit seinen etwa ein
Meter neunzig ein wahrer Riese. Er trug eine schwarze Schirmmütze und eine
blaue Schürze. Während er zu den verwitterten Holzbalken in der Ecke ging,
hielt er den Unterkörper leicht vorgeschoben. Mit schwieligen Pranken griff er
nach den Balken und stapelte sie. Friederike Dürr trat hinter Otto, als wolle
sie sich verstecken.
»Das ist mein
Vater«, flüsterte sie. »Er ist gekommen, um uns zu beobachten.«
In diesem
Augenblick schielte der Mann über seine Schulter und blickte drohend zu seiner
Tochter. Otto hatte keine Ahnung, was zwischen den beiden vorging. Er nahm nur
die Furcht einer jungen Frau wahr und hielt es für seine Pflicht als Gentleman,
ihr in dieser Situation beizustehen. Entschlossenen Schrittes ging er zu
Eberhard Dürr hinüber. »Wenn ich mich kurz vorstellen darf. Mein Name ist
Sanftleben. Dr. Sanftleben.«
Der
Drechslermeister richtete sich auf. Sogleich fielen Otto die tiefen,
senkrechten Stirnfalten ins Auge. Ein hoch geschätzter Kollege, der Geheime
Sanitätsrat Baer, seines Zeichens Oberarzt im Strafgefängnis Plötzensee, hatte
ihm erst kürzlich erklärt, dass vom Gehirn je nach Gemütsregung und Willensreiz
bestimmte Muskelgruppen des mimischen Apparats in Bewegung gesetzt würden. Bei
häufigen Wiederholungen bildeten sich so Furchen, Gesichtslinien und
Lippenstellungen heraus, die zu charakteristischen Merkmalen werden konnten. So
traten, wie Baer weiter ausgeführt hatte, senkrechte Stirnfalten besonders
häufig bei Personen auf, die zu unterschwelligem Zorn und Verdrossenheit
neigten. Doch der alte Dürr war nicht nur zornig, sein Blick wirkte kalt, wie
bei einem Berufsverbrecher, dessen Gewissen abgestumpft war oder der nie eines
besessen hatte.
»Das interessiert
mich nicht«, sagte Dürr mit einem heiseren Timbre, das verriet, wie wütend er
war. »Ich will nur wissen, was Sie von ihr wollen.«
»Das hab ich dir
doch gesagt, Vater«, sagte Friederike Dürr. »Herr Dr. Sanftleben sucht den
Mörder von Elvira.«
»Meine Tochter war
schon auf dem Polizeipräsidium«, sagte Dürr barsch. »Eine ganze Stunde haben
die verlausten Juden sie befragt.«
»Ihre Tochter ist
eine wichtige Zeugin in einem Fall von öffentlichem Interesse«, sagte Otto um
Sachlichkeit bemüht. »Es haben sich neue Fragen ergeben, die geklärt werden
müssen. Außerdem möchte ich Sie bitten, uns allein zu lassen, damit wir
ungestört sprechen können.«
»Ungestört! Ich
hab genau beobachtet, wie Sie sie anstarren. Glauben Sie, dass ich blind bin?
So guckt kein Beamter, so guckt ein …« Statt weiterzureden, krümmte der
Drechslermeister seine Finger, was Otto an das Vorstrecken der Krallen im Tierreich
erinnerte, an eine Maßnahme also, die dem Beuteschlag unmittelbar vorausgeht.
Sogleich trat Otto einen Schritt zurück und
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