Mord unter den Linden (German Edition)
konkret für Sie tun?«
Der Commissarius
berichtete, dass er Heribert Korittke, den Kopf der Apostolischen Gemeinde,
vernommen hatte, aber zu keinem abschließenden Urteil gelangt war. Deshalb bat
er Otto, einen Gottesdienst der Sekte zu besuchen. Dabei sollte er sich umhören
und sich eine Meinung darüber bilden, ob Korittke fähig wäre, einen Mord zu
begehen. »Es wäre für die Ermittlung förderlich, wenn Sie den Bericht noch vor
Ihrer Abreise nach München im Präsidium abgeben könnten. Ist Ihnen sonst noch
etwas eingefallen? In Bezug auf die Zeugin Dürr, meine ich.«
Otto spürte, wie
sich sein schlechtes Gewissen regte. War jetzt der richtige Zeitpunkt, um den
Commissarius über seinen eigenmächtigen Besuch zu informieren? Oder war dazu
noch Gelegenheit, wenn Friederike Dürr ihm tatsächlich etwas Neues mitteilte?
»Nichts?«, hakte
der Commissarius nach. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Merci beaucoup pour vos efforts, und bitte vergessen Sie
den Bericht nicht.«
Bei der Apostolischen Gemeinde
Am Abend ließ Otto
das Fahrrad auf einem Baugrundstück im Stralauer Viertel ausrollen, stieg ab
und lehnte es gegen einen Holzschuppen. Mittlerweile hatte er herausgefunden,
dass die Apostolische Gemeinde vor allem einfache Leute anzog. Weil er nicht
auffallen wollte, trug er eine verschlissene Joppe, die er schon als Student
besessen hatte. Um seine Maskerade perfekt zu machen, griff er in den Dreck und
rieb die Hände aneinander; mit schmutzigen Fingern würde man ihn hoffentlich
für einen Arbeiter halten. Dann ging er die Straße hinunter und erreichte
schließlich eine flache, lang gezogene Baracke.
Im Inneren mussten
sich seine Augen erst an das schummrige Licht gewöhnen. Zwar flackerten überall
Kerzen, aber es gab keine Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite des
Eingangs stand eine zusammengezimmerte Kanzel, dahinter ein Bretteraltar, links
davon sah er ein altes Harmonium. Ungefähr fünfundzwanzig Menschen saßen in den
Stuhlreihen vor ihm und unterhielten sich leise.
Da trat ein Mann
aus einer Nische auf Otto zu und sagte: »Sommsai liebt dich.« Er trug Sandalen
und ein weißes Gewand und lächelte so selig, als hätte er gerade die Nachricht
von einer Millionenerbschaft erhalten.
Otto hielt die
Worte für eine Begrüßungsformel, wusste aber nicht, was er antworten sollte.
Der Mann wiegte
seinen Oberkörper vor und zurück und sagte: »Ich habe Sie noch nie bei uns
gesehen. Möchten Sie sich unserer Gemeinde anschließen?«
»Ich habe schon
viel von Sommsai gehört«, erwiderte Otto. »Und da bin ich neugierig geworden.«
»Uns ist jede
Seele willkommen. Sicher haben Sie viele Fragen. Hier, nehmen Sie erst einmal
dieses Heftchen. Es ist kostenlos, aber wir sind für jede Spende dankbar.«
»Gern«, sagte Otto
und nahm die lose zusammengehefteten Blätter entgegen. Er gab dem Mann eine
Münze und ging den Mittelgang hinunter. Vielen Gemeindemitgliedern schien das
Leben bisher übel mitgespielt zu haben. Ein gelähmter Knabe hing über zwei
Stühlen, Speichel sickerte aus seinem Mundwinkel. Vor ihm saß ein
ausgemergelter Mann, er war ganz in sich gekehrt und nahm nichts von seiner
Umgebung wahr. Seine groben, schwieligen Hände bearbeiteten eine Mütze, die er
im Schoß hielt. Otto ließ seinen Blick zu den anderen Gemeindemitgliedern
wandern und dachte: Diese Menschen sind keine Scharlatane, sondern
Zukurzgekommene. Ihre ganze Sehnsucht konzentrierte sich auf das Jenseits, wo sie
zu den Auserwählten zählen würden – das versprach ihnen zumindest die
Apostolische Gemeinde, wie Otto wusste.
Er setzte sich
neben eine rundliche, mütterlich wirkende Frau und sagte: »Sommsai liebt dich.«
»Dank dem
Allmächtigen in der Höh«, erwiderte sie.
Das ist also die
richtige Antwort, dachte Otto und widmete sich dem Heftchen. Auf der ersten
Seite waren die Mitglieder der Apostolischen Gemeinde aufgeführt, die sich
durch eine Spende von über hundert Mark bereits einen Platz im himmlischen
Jerusalem gesichert hatten. Otto blätterte weiter und las mit Erstaunen die
Geschichte der Sekte. Sie berief sich auf eine kleine Gruppe von Christen, die
sich etwa dreihundert Jahre nach Jesu Geburt zusammengeschlossen hatten, um ein
Leben in Einsamkeit zu führen, das durch Frömmigkeit und Nächstenliebe geprägt
war. Gott war ihnen daher besonders wohlgesonnen. Im 13. Jahrhundert hatten
sich die Gläubigen auf Pilgerreise begeben und waren allesamt von einer wilden
Sarazenenschar
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