Mord unter den Linden (German Edition)
gedachte der Gründung des
Kaiserreichs von 1871 und war ein Symbol für die Stärke Deutschlands. Erst vor
zwei Monaten war es von Wilhelm II . mit einer
großen Parade eingeweiht worden.
Er bog um eine
Straßenecke und erreichte den neu angelegten Platz inmitten von gerade
fertiggestellten Mietshäusern und einigen Baustellen.
Zwischen Büschen
und noch jungen Bäumen, Parkbänken und Spazierwegen erhob sich das zehn Meter
hohe Nationaldenkmal. Eine steinerne Germania auf einem runden Sockel reckte
die Kaiserkrone in die Höhe. In der anderen Hand hielt sie ein Schwert. Auf
ihrem Brustpanzer prangte der Reichsadler. Das Denkmal war geradezu ideal für
seine Zwecke.
Bei einer Eiche
blieb er stehen und musterte die umliegenden Fenster. Nirgends sah man
Lampenschein, weder Stimmen noch Geräusche drangen in die Nacht. Bis auf das
erste Morgengezwitscher einiger Vögel war es vollkommen still. Er machte ein
Handzeichen in Richtung eines Fliederbusches, woraufhin sich eine Gestalt aus
dem Dickicht zwängte und neben ihn trat.
»Irgendetwas
Ungewöhnliches?«, fragte er.
»Vor einer Stunde
hat sich ein Liebespaar hier herumgedrückt«, sagte sein Komplize. »Es hatte den
Anschein, als wüssten sie nicht, wo sie hingehen sollten; dann sind sie
weitergezogen. Ein paar Minuten später kam ein betrunkener Mann vorbei, der
vermutlich von einem Zechgelage nach Hause schwankte.«
»Gendarmen?«,
fragte er und zog seine Taschenuhr hervor.
»Ich hab keine
gesehen.«
»In einer halben
Stunde wird es hell. Am besten fangen wir gleich an. Wo ist die Leiter?«
»Dort drüben, am
Baum.«
»Bring sie zum
Denkmal. Hinterher kehrst du hierher zurück und behältst den Platz im Auge. Wenn
sich jemand nähert, pfeifst du.«
»Verstanden.«
Beide bewegten
sich zur Mitte des Platzes. Sie hatten Arbeitermützen aufgesetzt und sie tief
ins Gesicht gezogen. Sollte sie jemand beobachten, so würde er sie später nicht
wiedererkennen können. Der Himmel war wolkenfrei, und das Mondlicht tauchte die
Szenerie in ein silbergraues Licht.
Kurz vor der
hüfthohen Schutzwehr nahm er den Seesack von der Schulter, den er den ganzen
Weg von zu Hause bis hierher geschleppt hatte. Er öffnete den Kordelzug. Zuerst
zog er einen kleineren Beutel hervor, der einige ältere Ausgaben der verbotenen
Zeitung »Der Sozialdemokrat« enthielt sowie einen Notizblock mit revolutionären
Zitaten, Fotografien der Politiker Karl Liebknecht und August Bebel, eine leere
Bierflasche und Brotreste. Den Beutel arrangierte er so, als wäre er bei einer
überstürzten Flucht vergessen worden.
Dann entnahm er
dem Seesack ein Steingefäß, das mit Dynamit gefüllt war, und führte eine
wetterfeste Zündschnur durch eine runde Öffnung. Am Ende der Zündschnur
befestigte er einen Feuerschwamm. Mit dieser Sprengladung stieg er über die
Schutzwehr und kletterte die Leiter hinauf. Oben angekommen, platzierte er die
Bombe in einem Hohlraum zwischen dem langen, faltenreichen Gewand, dem leicht
abgespreizten Schwertarm und dem Umhang der Germania. Dann stieg er die
Sprossen wieder hinab, entzündete ein Schwefelhölzchen und setzte den
Feuerschwamm in Brand. Rasend schnell fraß sich die Glut die Zündschnur hoch,
und er eilte davon. Unterwegs gesellte sich sein Komplize zu ihm. Gemeinsam
erreichten sie die Straße und wandten sich in östliche Richtung. Sie waren noch
keine fünfhundert Meter von dem Nationaldenkmal entfernt, als ein
ohrenbetäubender Knall die nächtliche Stille zerriss.
Auf der Radrennbahn an der Brückenallee
Am frühen
Nachmittag trainierte Otto zunächst den Antritt, der beim Radsprint über Sieg
und Niederlage entscheiden konnte. Später fuhr er längere Distanzen. Er wollte
erst aufhören, wenn er auf tausend Meter unter einer Minute fünfzig blieb, was
allerdings mit der schwerfälligen Trainingsmaschine der Marke Nürnberger
Veloziped beinahe unmöglich war.
Als Otto in die
Zielgerade einbog, spürte er seine Beine kaum noch. Sein Atem ging zu schnell,
sein Trikot klebte am Rücken, und die Innenseiten seiner Schenkel waren wund
gescheuert. Trotzdem schaffte er es irgendwie, noch an Tempo zuzulegen. Mit
letzter Kraft trat er in die Pedale und schoss über die Ziellinie. »Wie viel?«,
rief er keuchend.
Die Antwort blieb
aus. Zuerst dachte Otto, dass er vor lauter Erschöpfung oder wegen des
Fahrtwindes Moses nicht verstanden hatte. Also wendete er und fuhr in
gemütlichem Tempo zurück. Zu seinem Erstaunen stellte er jedoch fest, dass
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