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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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niedergemetzelt worden. Kurz bevor ihr geistlicher Führer den
Märtyrertod gestorben war, hatte er prophezeit, dass die Sekte im Jahre 1883
unter einem neuen Apostel auferstehen würde. Und dies war angeblich niemand
anderes als Heribert Korittke, Gemischtwarenhändler aus Berlin-Kreuzberg, der sich
selbst Sommsai nannte.
    Und das glauben
die armen Menschen hier!, dachte Otto und las kopfschüttelnd weiter, wie der
Apostel Korittke von seinem Auftrag erfahren hatte. Als er sich in seinem
Geschäft nach dem Registrierbuch gestreckt hatte, um die Inventur vorzunehmen,
war ihm der schwere Lederband auf den Kopf gefallen, sodass er in eine tiefe
Bewusstlosigkeit gesunken war. Während er zwischen Kartoffelsäcken, Knöpfen und
Dr. Hagenbergs Lutschpastillen reglos dagelegen hatte, war ihm Jesus Christus
in einem sanften Licht erschienen. Der Messias hatte ihm aufgetragen, die
Weltbevölkerung zu einen und sie auf das Jüngste Gericht vorzubereiten. Auch
war Jesus so freundlich gewesen, ihm den konkreten Termin für den nahenden
Untergang zu nennen, den 31. Dezember 1899 nämlich.
    Otto blickte von
seiner Lektüre auf, als neben ihm eine verhärmte Frau Platz nahm, die ein
streng geschnittenes schwarzes Kleid trug und deren magerer Körper über
keinerlei weibliche Rundungen verfügte. Ihr roter Schopf war so dünn, dass man
die wenigen Haare einzeln zählen konnte. »Sommsai liebt dich«, sagte sie
streng.
    »Dank dem
Allmächtigen in der Höh«, erwiderte Otto und erhob sich von seinem Stuhl, denn
vorn am Altar erschien nun der Mann, der ihm eben das Heftchen gegeben hatte,
und machte ein entsprechendes Zeichen.
    »Schlagt das Lied
Nummer zehn im Gesangsbuch auf«, sagte der Mann und nickte einem Greis am
Harmonium zu. Sogleich ertönte eine sakrale Melodie. Otto nahm ein Gesangsbuch
aus einem Fach an der Rückenlehne am Stuhl vor ihm, blätterte durch die Seiten
und stimmte in den Gesang ein: »Voller Unschuld ist er uns erschienen / Und
nahm uns lächelnd an die Hand. / Mit unserem Vater wollen wir ziehen / Nun
endlich ins verheißene Land.«
    In diesem Moment
ging neben dem Altar eine Tür auf, und Sommsai betrat den Raum. Zumindest
glaubte Otto, dass es sich um den Apostel Korittke handelte, denn er trug ein
weißes Gewand und eine Krone, die im Übrigen seine Segelohren recht
unvorteilhaft betonte. Zwölf Jünger unterschiedlichen Alters folgten ihm. Die
Gemeinde sang ergriffen: »Oh, unser Erlöser, wir sehen dich! / In des Apostels
Fleisch zeigst du dich! / Halleluja! Halleluja!«
    Nachdem der Mann
am Altar ein paar einleitende Worte gesprochen hatte, stieg Sommsai auf die
Kanzel und sagte salbungsvoll: »Liebe Brüder und Schwestern, von einer wahren
Begebenheit will ich euch heute erzählen. Ihr wisst, dass ich viel durch die
deutschen Lande reise, um das Wort Jesu zu verbreiten. Ihr wisst auch, dass der
Kampf zwischen Gut und Böse erst entschieden sein wird, wenn wir in den Schoß
unseres Heiligen Vaters heimgekehrt sind. Vergangenen Donnerstag ereignete sich
nun etwas, das uns als Beweis dienen kann, dass wir den rechten Pfad
eingeschlagen haben und diesen Weg weiter beschreiten sollen …«
    Otto sah sich den
angeblichen Apostel genauer an. Mit auffälliger Kleidung sollte meistens eine
Botschaft ausgesandt werden. Warum musste Sommsai seinen heiligen Auftrag noch
mit diesem Aufzug betonen? Verbarg er etwa unter dem weißen reinen Gewand
eigensüchtige Gedanken, von denen niemand etwas wissen sollte?
    Dann betrachtete
Otto Sommsais Gesicht, seine lange, spitz zulaufende Nase. Sie wurde listigen
Menschen zugeschrieben, nicht aber gewalttätigen oder aggressiven. Besondere
Aufmerksamkeit widmete Otto Sommsais Augen und seinem Blick. Schließlich
betonte sein hoch geschätzter Kollege, der Geheime Sanitätsrat Baer, immer
wieder, dass das Auge jenes Organ sei, welches die wahren Gefühle am
deutlichsten offenbare. Jede Bewegung des Auges, jede Veränderung der Blickrichtung
verrate die innere Gemütsstimmung. So lasse ein steter Blick auf seelische
Ruhe, ein flüchtiger hingegen auf geistige Erregtheit schließen. Natürlich war
Vorsicht geboten. Vorschnelle Einschätzungen bargen, wie Otto wusste, immer die
Gefahr, ein Fehlurteil zu fällen. Häufig ließ man sich vom Blick eines
vermeintlichen Menschenfreundes täuschen, der Offenheit und Sympathie
vorheuchelte, um sein Ziel zu erreichen. Und genauso oft interpretierte man
abweisende Blicke falsch, denn statt um einen Grobian konnte es sich auch um
einen

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