Mord unter den Linden (German Edition)
Lippen wieder. Ihr Kinn zitterte, und ihre Augen sahen ihn groß und
rund an. Erneut setzte sie an, etwas zu sagen, und wieder gab sie auf.
Plötzlich stand
sie auf und umarmte ihn. »Du bist so ein guter Mann«, flüsterte sie und strich
ihm über die Haare. »Hörst du, so ein guter Mann! Ich habe dich vom ersten
Moment an geliebt. Das musst du mir glauben – was immer auch geschieht. Vom
ersten Moment an.« Zuerst waren ihre Küsse sanft, dann aber bedeckte sie seinen
Hals und die Wangen mit immer intensiveren Küssen. Ihr Atem wurde schneller.
Eben noch hatte
Otto mit einer Hiobsbotschaft gerechnet, jetzt spürte er, wie seine Erregung
wuchs. Annas Lippen waren nun überall, ihre Arme klammerten sich um seine
Taille. Er griff nach ihren Schultern, er wollte sie zu sich ziehen, aber Anna
wehrte ab. Sie kniete sich zwischen seine Beine, ihre Brust drückte gegen
seinen Unterleib, und mit fliegenden Fingern öffnete sie die Knöpfe seines
Hosenträgers. Dann fasste sie mit beiden Händen nach dem Bund seiner Hose und
zog sie mit einem Ruck herab. Sie senkte den Kopf über seinen Schoß und nahm
die Spitze seines Glieds in den Mund.
Otto schloss die
Augen. Bisher hatten sie sich nur geküsst oder höchstens einmal schüchtern
gestreichelt. Zwar hatte Anna ihn mehrmals gedrängt weiter zu gehen, aber Otto
hatte befürchtet, dass sie es nur seinetwillen wollte und dass der voreheliche
Beischlaf sie in arge Gewissensnöte stürzen würde. Aus Respekt vor ihrem
Glauben, der strengen Erziehung und dem protestantischen Elternhaus hatte er
entschieden, dass sie bis nach der Heirat im kommenden August warten sollten.
Jetzt spürte Otto,
dass sie ihre ganze Seele in die Zärtlichkeiten steckte, so als wolle sie ihm
einen unvergesslichen Genuss verschaffen. Er hatte es nicht für möglich
gehalten, dass seine Gefühle für sie noch stärker werden könnten, aber in
diesem Moment liebte er sie ganz und gar.
Im Tiergarten, im Januar 1884
Nachdem Anna
gegangen war, setzte sich Otto wieder in den Ohrensessel und starrte vor sich
hin. Es war zweifellos wunderschön gewesen, trotzdem war Annas Besuch
rätselhaft. Warum hatte er sie nicht berühren dürfen? Warum hatte sie nicht
einmal den Mantel abgelegt? Warum hatte sie ihn beim Abschied nicht geküsst?
Und was hatte sie ihm eigentlich sagen wollen? Ein Verdacht stieg in Otto auf.
Fühlte sie sich vielleicht von ihm vernachlässigt?
Es stimmte, seit
ihrer Verlobung vor knapp einem Jahr arbeitete Otto mit noch größerem Ehrgeiz,
um ihnen ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Die Beförderung zum Oberarzt in
der Charité hatte nicht nur sein Gehalt, sondern auch seinen
Verantwortungsbereich vergrößert. Sein viel beachtetes Lehrbuch »Grundlagen der
Kriminalpsychologie« erschien gerade in der zweiten Auflage, für die er sein
Werk grundlegend überarbeitet hatte. Zwei ausführliche Aufsätze – »Irrsinn beim
Weibe« und »Die soziale Misere als kriminogener Faktor« – hatte er in
renommierten Fachzeitschriften platziert. Das Echo auf seine Veröffentlichungen
war so positiv, dass er sich entschieden hatte, eine Lesereise zu unternehmen.
Sein Arbeitspensum betrug vierzehn bis fünfzehn Stunden am Tag, hinzu kam noch
der Radsport, ein zeitintensives Hobby, das er als Ausgleich zur geistigen
Tätigkeit dringend brauchte. Abends war er oft so müde, dass er sich kaum noch
auf den Beinen halten konnte. Letzte Woche erst war er bei einem Treffen mit
Anna im Café Bauer mitten im Satz eingeschlafen. War es das, was sie eigentlich
mit ihm hatte besprechen wollen? Dass er so wenig Zeit für sie hatte?
Otto hatte ihr
schon mehrmals erklärt, dass er von den Zuwendungen der Eltern unabhängig sein
und ihr trotzdem alles bieten wollte. Ihr sollte es an nichts mangeln. Er hatte
immer den Eindruck gehabt, dass sie auf seinen Erfolg stolz war, auch hatte sie
sich nie beklagt. Trotzdem, dachte er jetzt, es besteht natürlich die Gefahr,
dass unsere Liebe auf der Strecke bleibt.
Er erhob sich aus
dem Ohrensessel und trat ans Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und sah
zum Himmel empor. Die quellenden weißen Wolkenberge hingen so tief, dass sie
beinahe die Dächer berührten. Die »Vossische Zeitung« hatte gemeldet, dass
gegen Abend wieder starker Schneefall einsetzen würde. Am liebsten würde ich in
Berlin bleiben, dachte Otto plötzlich. So könnte er diese herrlichen Wintertage
mit Anna verbringen. Er würde einfach an die Veranstalter der Lesungen ein
Telegramm schicken;
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