Mord unter den Linden (German Edition)
Naturwissenschaften eintauchten, biss
Otto in eine duftende Lauchpastete und schaute aus dem Fenster. Sie kamen durch
eine kleine Ortschaft. Unweit der Gleise arbeitete eine Frau in einem
Gemüsegarten. Sie trug eine weiße Schürze über einem grauen Kleid. Als der Zug
vorbeifuhr, richtete sie sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und streckte
ihren Rücken durch.
Bald sah Otto nur
noch Wiesen und Wälder. Am Himmel dräuten Wolken, wahrscheinlich würde es am
Abend ein Gewitter geben. Morgen ist es also so weit, dachte Otto. Morgen werde
ich sie wiedersehen. Über sechs Jahre waren seit ihrer letzten Begegnung
vergangen. Trotzdem konnte sich Otto nur zu gut daran erinnern. Solange er
lebte, würde er jenen Wintertag vor sechs Jahren nicht vergessen.
In der Friedrichstraße, im Januar 1884
Zerstreut ließ
Otto seinen Blick über die Dinge schweifen, die sorgfältig aneinandergereiht
auf seinem Bett lagen und die ihn auf die vierzehntägige Vortragsreise
begleiten sollten: wollene Unterwäsche, Kniestrumpfhalter, ein Frack zum
Wechseln, türkischer Honig als Reiseproviant, der »Baedeker« für München, das
Herrenkorsett von Bowles & Sons, Reiseunterlagen, das Manuskript und
diverse Bücher. Hatte er etwas vergessen?
Während er vor
sich hin starrte, schweiften seine Gedanken ab. Heute Morgen hatte ihn ein
Billett erreicht. Obwohl er mit seiner Verlobten vereinbart hatte, dass sie
sich erst nach seiner Rückkehr wiedersehen würden, hatte Anna ihm geschrieben,
dass sie ihm gegen Mittag in seinem chambre garni in
der Friedrichstraße einen Besuch abstatten wolle. Otto konnte sich nicht vorstellen,
was so dringend war, dass es keinen Aufschub duldete. Deshalb erwartete er Anna
mit einem komischen Gefühl.
Die Taschenuhr,
dachte er plötzlich. Ich hab die Taschenuhr vergessen. Zu Vorträgen nahm er sie
immer mit und legte sie stets vor sich auf das Rednerpult, um den Zeitplan
einzuhalten. Als Otto zum Kopfende des Bettes trat und die Nachttischschublade
aufzog, schellte es an der Tür. Das muss sie sein, dachte er. Rasch legte er
die Taschenuhr neben sein Manuskript und verließ das Zimmer. Mit federnden
Schritten ging er durch das Entree und öffnete die Eingangstür. Als er Anna
sah, strahlte er über das ganze Gesicht. Dann besann er sich und spähte ins
Treppenhaus. »Hat dich jemand gesehen?«
Sie mussten sehr
vorsichtig sein. Zum einen konnte ein Stelldichein Annas Ruf ruinieren, zum
anderen verbot Ottos Vermieterin jeglichen Damenbesuch. Heute war sie jedoch
bei einer Freundin, wahrscheinlich um den neuesten Klatsch auszutauschen,
Bridge zu spielen und ein Gläschen Eierlikör zu trinken. Vor den frühen
Abendstunden würde sie nicht heimkehren.
»Niemand«, sagte
Anna.
»Dann komm schnell
herein.« Otto zog Anna in die Wohnung und trat die Tür mit der Hacke zu. Erst
jetzt traute er sich, seine Verlobte in die Arme zu schließen. Zart küsste er
sie auf den Mund. Dann roch er ihren milden Duft, von dem er nicht genug
bekommen konnte, und drückte sie fester an sich.
»Warte«, sagte
Anna.
Otto trat einen
Schritt zurück und schaute sie erwartungsvoll an. Unter ihrer Pelzmütze lugte
rotblondes Haar hervor, und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Sie sah
noch schöner aus als sonst.
Anna schwenkte
ihren Muff. »Vielleicht sollte ich das erst ablegen und meine Haare in Ordnung
bringen. Kannst du mich bitte einen Moment allein lassen?«
»Natürlich«, sagte
Otto. »Ich muss sowieso noch packen. Wenn du so weit bist, komm einfach in mein
Zimmer.«
Otto ging zu
seinen Sachen zurück, doch er blieb nachdenklich vor dem Bett stehen.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Die Mimik, der Tonfall, sie hatte heute
etwas Kummervolles an sich. Und was machte sie eigentlich so lange da draußen?
Otto hatte noch gehört, wie sie einige Schritte auf dem Parkett gegangen war.
Jetzt aber war alles still. Er hörte kein Klappern an der Garderobe, keine
Schritte – nichts.
»Otto? Ich muss
dir was sagen.«
Er hatte nicht
gehört, wie sie ins Zimmer getreten war. Jetzt drehte er sich um und sah, dass
sie in voller Montur im Raum stand. Sie hatte nur den Muff und die Pelzmütze
abgelegt.
»Vielleicht setzen
wir uns besser«, sagte sie.
»Natürlich«, sagte
Otto und nahm in seinem Ohrensessel Platz. Was mochte nun kommen?
Anna setzte sich
ihm gegenüber, griff nach seinen Händen und sah ihm in die Augen. Dann öffnete
sie ihren Mund, aber noch ehe sie ein Wort gesagt hatte, schloss sie ihre
schönen
Weitere Kostenlose Bücher