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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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aber nicht heute.
    Seit jenem
Wintertag hatte er Jean-Paul und Anna nicht mehr gesehen. Zwar wusste er, dass
sie im Frühling 1884 geheiratet und mittlerweile drei Kinder hatten, doch wie
würde es sein, ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen? Er hatte
sich die Begegnung schon häufig ausgemalt, aber er hatte nach wie vor Angst
davor. Ob sie sich wohl über seine Naivität lustig machten? Oder spielte er
einfach keine Rolle mehr für sie?
     

Im Friedrichshain in Berlin
    Wolkenbänder, die
im Mondlicht silbergrau glänzten, zogen am Nachthimmel dahin. Ein kühler Wind
aus Nordost vertrieb den Geruch nach verbranntem Menschenfleisch. Commissarius
Funke schraubte den Griff seines Spazierstockes ab und nahm einen großen
Schluck Cognac aus der darin versteckten Röhre. Während er dem Brennen in
seiner Kehle nachspürte, beobachtete er, wie der Gerichtsarzt und sein
Assistent die verkohlten Überreste einer Frau von einem Holzkreuz schnitten.
Sie war fast an derselben Stelle wie die Handschuhnäherin Elvira Krause
gekreuzigt und verbrannt worden. Seufzend wandte sich der Commissarius ab und
blickte über die schlafende Stadt. Die menschenleeren Straßen wirkten wie ein
Labyrinth. Jede Abzweigung führte in die Ewigkeit.
    Seit knapp drei
Wochen ermittelte er nun schon im Kreuzigungsfall, mit Dr. Sanftleben hatten
sie sogar einen Experten hinzugezogen, und trotzdem tappten sie noch immer im
Dunklen. Anscheinend trieb ein Serientäter sein Unwesen. Niemand konnte sagen,
wie viele Frauen noch sterben mussten, ehe sie ihn schnappen würden.
    Und dann war da
noch die Sache mit dem angedrohten Attentat. Keiner wusste, ob der Mann Ernst
machen und dem Leiter der politischen Polizei etwas antun würde.
    »Commissarius?«
    »Ah,
Monsieur Holle« ,
erwiderte Funke, » comment allez-vous ?«
    »Wir sind fündig
geworden«, sagte Wachtmeister Holle, ein langer, rotgesichtiger Blondschopf,
der offenbar kein Wort von dem verstanden hatte, was Funke zu ihm gesagt hatte.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
    Der Commissarius
griff nach einem kleinen Lederkoffer und ging den Hügel hinab. Das lange Gras
federte seine Schritte ab. Nach wenigen Minuten umrundete er einen kleinen
Birkenhain und blieb neben dem Wachtmeister vor einem Brombeerstrauch stehen.
Zu seinen Füßen befand sich eine flache Mulde. Der Commissarius kniete sich
hin, befühlte die sandige Erde und öffnete seinen Lederkoffer. Er griff nach
einem Seil und reichte es dem Wachtmeister. »Bitte sperren Sie die Mulde ab,
mein Lieber. Niemand darf sie ohne meine ausdrückliche Erlaubnis betreten.«
    »Jawohl.«
    Funke nahm ein
Maßband aus dem Koffer und entrollte es. Sorgfältig maß er die Wagenspuren im
sandigen Untergrund aus. Die beiden Rillen waren je drei Zentimeter breit, der
Abstand zwischen ihnen betrug sechzig Zentimeter. Offenbar hatte der Täter
einen Bollerwagen, eine Schubkarre oder ein ähnliches Gefährt benutzt, um das
Kreuz und das Opfer auf die Anhöhe zu transportieren. Der Commissarius machte
sich eine Notiz auf seinem Schreibblock und wandte sich einem etwa dreißig
Zentimeter langen Schuhabdruck zu. Das Kreuzprofil war ihm bereits vertraut.
»Bitte fertigen Sie hiervon einen Gipsabdruck an. Gibt es noch weitere Spuren?«
    »Ja, dort drüben«,
erwiderte Wachtmeister Holle und deutete auf einige Büsche hinter einem
Rasenstreifen. »Gehen Sie auf dem schmalen Pfad neben der Linde entlang, dann
stoßen Sie auf die Kollegen.«
    Der Commissarius
überquerte die freie Fläche und schob sich durch das Dickicht. Zweige kratzten
an seinen Händen, Blätter wischten ihm durchs Gesicht, mehrmals stolperte er
über Wurzeln. Endlich erreichte er eine kleine Lichtung und sah, wie fünf oder
sechs Schutzleute auf einem Felsen saßen und sich leise unterhielten. Ihre
Fackeln hatten sie in den Boden gerammt und so einen Kreis mit einem
Durchmesser von etwa sechs Metern abgesteckt. »Ist etwa jemand auf den Spuren
herumgetrampelt?«, fragte Funke streng.
    Ein Schutzmann
erhob sich, legte den Unterarm formvollendet vor den Bauch und verbeugte sich. » Le commissaire des fleurs! Quelle surprise .« Die anderen
Beamten prusteten los.
    Der Commissarius
hatte schon mehrfach erlebt, dass seine Erscheinung zu spöttischen Bemerkungen
provozierte, und hatte sich inzwischen damit abgefunden. »Dann wollen wir mal«,
sagte er, sah sich in dem erleuchteten Kreis um und entdeckte auch hier
Wagenspuren. Er kniete sich zwischen sie und maß ihre Breite. Eins

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