Mord unter den Linden (German Edition)
eine dringende Angelegenheit halte ihn in Berlin, er könne
leider nicht kommen. Ja, so würde er es machen, er wollte die nächsten Tage bei
Anna sein. Und das sollte sie so rasch wie möglich erfahren. Beim Abschied
hatte sie ihm erzählt, dass sie eine Verabredung im Tiergarten zum Eislaufen
hatte. Dort wollte er sie abpassen und ihr von seinem Entschluss berichten. Das
wird eine Überraschung, dachte er und rieb sich voller Vorfreude die Hände.
Geschwind kleidete
er sich an, lief zum Haus seiner Eltern und fand seine alten Schlittschuhe auf
dem Dachboden. Im Pferdeomnibus setzte er sich auf die harte Holzbank und rieb
mit dem Handschuh ein Guckloch in die Eiskristalle auf der Fensterscheibe.
Draußen lag der Tiergarten in winterlicher Pracht. Einst hatten hier, in einem
umzäunten Wildpark, die Kurfürsten Hirsche geschossen. Unter König Friedrich II . hatte der Park seinen ursprünglichen Zweck als
Jagdgrund jedoch verloren und stand seitdem der Bevölkerung offen. Besonderer
Beliebtheit erfreute sich die Gegend um die Rousseau-Insel, wo sich zu dieser
Jahreszeit die besten Eisbahnen befanden.
Otto stieg am
Kleinen Stern aus, marschierte in südliche Richtung und kürzte den Weg über
einen Schleichpfad ab. Mit seinen hohen Schaftstiefeln, dem dicken Pelzmantel
und einer Bibermütze war er für das Eisabenteuer bestens ausgerüstet.
Der Schnee
knirschte unter seinen Füßen, von den Ästen stürzten kleine Schneelawinen, und
sein Atem hinterließ weiße Wolken in der kalten Luft. Als Otto das Seeufer
erreicht hatte, hielt er nach Anna Ausschau. Die Temperaturen lagen weit unter
null Grad. Bei seinem Marsch hatte er sich etwas aufgewärmt, doch jetzt kroch
die Kälte wieder durch Mantel und Mütze. Sie müsste längst da sein, dachte er und
suchte mit den Augen die Eisbahn nach ihr ab.
Dort herrschte ein
buntes Treiben. Ein junger Dragoneroffizier und seine Begleiterin übten sich im
Paarlauf. Mehrere Kinder spielten Fangen, was zuerst zu Jubel und wildem
Gekreische und schließlich zu einem heillosen Durcheinander aus Armen und
Beinen sowie bitteren Tränen führte. Ein älterer Herr fuhr seine Gattin auf
einem Stuhlschlitten umher. Auf einer Bühne spielte eine Blechbläserkapelle und
kämpfte hörbar mit vereisten Instrumenten. An einer Glühweinbude wurde
schwadroniert, und von einem Maronenstand trieb ein verführerischer Geruch
herüber.
Nur von Anna
fehlte jede Spur.
Sie wird schon
noch kommen, dachte Otto. Wenigstens konnte er so noch ein wenig üben.
Schließlich hatte er zuletzt vor acht oder neun Jahren auf dem Eis gestanden.
Otto setzte sich
auf einen Baumstumpf und schnallte sich die Schlittschuhe unter die Stiefel.
Doch als er sich in die Höhe stemmte, stockte ihm vor Schreck der Atem. Denn
auf dem leicht zum See abfallenden, mit rutschigem Schnee bedeckten Ufer
glitten die Kufen von allein abwärts. Er griff hektisch nach einem Zweig, bekam
ihn aber nicht mehr zu fassen und ruderte wild mit den Armen.
Ein Knirps kam ihm
zur Hilfe und stoppte ihn, indem er ihm in den Arm griff. Kess sah er auf. »Wohl
Anfänger, was?«
Otto rammte die
Kufen quer zum Gefälle in den Schnee und sagte vollmundig: »Ich war noch nicht
ganz bei der Sache. Aber pass mal auf, gleich wirst du Augen machen!« Jetzt war
sein sportlicher Ehrgeiz geweckt. Mit einer Hand stützte er sich auf dem Knaben
ab, tastete sich wackelig zum Eis vor und stieß sich vom Ufer ab.
Otto unternahm
zwei holprige Gleitschritte und setzte zu einer Drehung an, um dem Knirps in
lässiger Rückwärtsfahrt zuzuwinken. Bei diesem Manöver verlor er jedoch die Kontrolle
über die Kufen, die sich zuerst ineinander verhakten und dann in
entgegengesetzter Richtung auseinanderdrifteten. Hart prallte Otto auf dem Eis
auf.
Das Urteil des
Knirpses war diesmal endgültig. »Anfänger«, sagte er und wandte sich
desinteressiert ab.
Otto rappelte sich
auf und rieb sich das schmerzende Steißbein. So schnell gab er nicht auf! Er
konnte unmöglich alles verlernt haben. Schließlich war er früher mit Ferdinand
jeden Winter auf den Seen gewesen. Mit zusammengebissenen Zähnen stieß er sich
ab und glitt in langsamer Fahrt übers Eis, um wieder ein Gefühl für den
Bewegungsablauf zu bekommen. Er war so auf sein Gleichgewicht konzentriert,
dass er erst im letzten Moment bemerkte, dass eine junge Frau seinen Weg
kreuzte.
»Anna«, sagte er
freudig überrascht. »Da bist du ja endlich! Ich hab dich schon überall
gesucht.«
»Du?«,
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